Der Beethoven-Fluch
Patientinnen?”
Sämtliche Beamte des ACT hatten die übliche Polizeilaufbahn hinter sich. Lucian hingegen hatte auch an der Kunsthochschule studiert. Den Spitznamen war er gewohnt.
“Ehemalige Patientin, soweit ich das mitgekriegt habe.”
“Haben Sie sich schon mal gefragt, ob Sie nicht besser bei der Kunst geblieben wären?” Comley studierte eingehend die Zeichnung.
“Das fragt meine Mutter mich hin und wieder auch.”
“Und ihr weichen Sie ebenso geschickt aus?”
Lucian redete zwar nicht gern über seine Vergangenheit, verschwieg sie andererseits aber auch nicht. Seine künstlerische Ausbildung erleichterte ihm die Arbeit, und mit seinen schwarzen Jeans, dem schwarzen T-Shirt und dem schwarzen Jackett trug er nach wie vor jene für die New Yorker Kunstszene typische Uniform, mit der er Einlass zu jeder Vernissage gefunden hätte. Das hieß indes nicht, dass er viel über sein Leben vor Eintritt in den Polizeidienst redete.
Damals, mit neunzehn, hatte er an der New Yorker Kunstakademie Malerei studiert, als sein Leben eine jähe Wendung nahm. Freitagabends war das Metropolitan Museum of Modern Art gemeinhin länger geöffnet, und Lucian hatte vor, mit seiner Freundin und Kommilitonin Solange die Francisco-de-Zurbarán-Ausstellung zu besuchen. Er war mit Solange Uptown im Rahmenstudio ihres Vaters verabredet, unweit des Museums, und zwar für sechs Uhr. Von dort wollten sie dann zu Fuß zum Met.
An jenem Abend fuhr die schnelle U-Bahn nicht. So musste er die an jeder Ecke haltende Vorort-Bummelbahn nehmen und kam deswegen eine Viertelstunde zu spät zum Treffpunkt. Dort angelangt, stellte er fest, dass merkwürdigerweise kein Mensch vorn im Laden war. Auch auf sein Rufen bekam er keine Antwort. Ohne lange zu fackeln, öffnete er die Tür zur Werkstatt und trat ein.
Solange lag auf dem Fußboden, offenbar tot, umgeben von einem riesigen leeren Bilderrahmen aus blutbespritzten Silberleisten. Während Lucian noch auf dieses Bild des Grauens starrte, blitzte etwas in der polierten silbernen Oberfläche auf, eine flüchtige Bewegung, die ihm verriet, dass sich jemand im Raum befand, sich von hinten anschlich. Aber Lucian, eher schmächtig gebaut, reagierte zu langsam. Als angehender Maler hatte er von Selbstverteidigung keine Ahnung.
Als der Rettungsdienst eintraf, hatte Lucian gut zweieinhalb Liter Blut verloren. Der Dieb hatte viermal zugestochen und sein Opfer als vermeintlich tot liegen gelassen. Allerdings lebte Lucian. Genauer gesagt: noch. Denn auf dem Transport ins Krankenhaus setzten sämtliche lebenswichtigen Funktionen aus.
Der Notarzt brauchte geschlagene zwei Minuten, um den schon klinisch Toten zu reanimieren. Und wenngleich Lucian nie mit jemandem über diese zwei Minuten sprach, hatte er sie doch bewusst erlebt. Er ließ sich auch nicht anmerken, dass diese Nahtoderfahrung etwa sein Leben verändert oder sich sonst wie ausgewirkt hatte. Dass er die Welt nach der Messerattacke mit anderen Augen sah, lag seiner Meinung nach daran, dass er seine Freundin auf diese schreckliche Weise verloren hatte. Binnen weniger Monate wurde dann aus dem Jungen, der sich noch nie geprügelt hatte, ein auf Rache und Vergeltung fixierter Mann. Nun brauchte er nur noch eine Art Ruhezone, in der er diese Gelüste in eine berufliche Laufbahn einfließen lassen konnte, und zu diesem Schutzgebiet wurde das FBI. Auch sein Verständnis von Kunst wandelte sich: Kunst war fortan für ihn nicht mehr etwas, das der Künstler schuf, sondern etwas, das es zu schützen und zu bewahren galt. Er füllte ganze Blöcke mit unvollendeten Porträts der Menschen, denen er im Einsatz begegnete. Für ihn war das nicht anders, als wenn seine Kollegen sich Notizen machten.
“Sie haben sich doch sicher nicht von so weit herbemüht, um sich mit mir über meine schlummernden Talente zu unterhalten, oder?”, fragte er seinen Vorgesetzten.
Comley blätterte die Seite um, als könne er das traurige Kindergesicht nicht mehr ertragen. “Ich spiele ungern den Unglücksboten, aber der Fall wird ad acta gelegt. Wir können nicht …”
“Sie und mein Vater, Sie versuchen andauernd, mir einzureden, das sei alles Teil eines großen kosmischen Plans. Wieso?” Über den Lautsprecher drang erneut die gepresste Stimme von Meer Logan ins Apartment. Lucian Glass unterbrach sich angesichts des klagenden Tonfalls. “Warum soll denn das mein Schicksal sein, verdammt noch mal?”
“Das Schicksal eröffnet uns lediglich den Pfad zu unseren
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