Der Beethoven-Fluch
solle einen Privatermittler auf diese undichte Stelle ansetzen.
“Also, was haben Sie auf dem Herzen, Jeremy?” Brecht klopfte mit einer Fingerspitze auf den lederbezogenen Tisch. “Nicht, dass ich das Konzert doch noch verpasse!”
“Vor drei Wochen wurde ich von einer Dame gebeten, eine Thora zu begutachten. Sie hatte sie zufällig in der Wohnung ihrer Großmutter entdeckt und hoffte nun, unsere Judaika-Abteilung wäre möglicherweise daran interessiert.”
Im Folgenden berichtete Jeremy, wie er das Wohnzimmer der Großmutter von Helen Hoffmann betreten hatte, um dort eine Kostbarkeit zu besichtigen, und wie er buchstäblich ins Schleudern gekommen war, weil er auf einem Seitentischchen gleich noch eine zweite entdeckte: ein verstaubtes Kästchen. Wenngleich er sie nie im Leben gesehen hatte, erkannte er die geschnitzte Holzschatulle auf Anhieb. Jahrelang hatte er nach diesem Phantom gesucht, in schlaflosen Nächten und ruhelosen Tagen, getrieben von den kindlichen Erinnerungen. Seine Tochter, ein kleines Mädchen mit seidigen braunen Locken und wehmütigen grünen Augen, verbrauchte Unmengen von Buntstiften, um mit tränenüberströmten Wangen immer wieder bis zur Erschöpfung das gleiche Bild zu malen, angestrengt und bis in die kleinsten Einzelheiten.
Dass er durch Zufall auf eine antike Kassette gestoßen war, die exakt den Darstellungen seiner Tochter entsprach, fand Jeremy zwar verblüffend, doch trotz der frappierenden Ähnlichkeit noch einigermaßen nachvollziehbar. Was ihm allerdings nicht einleuchtete, das waren die Hinweise in dem Brief, den er erst an diesem Morgen in dem Kästchen gefunden hatte. Genau diese Informationen wollte er nun enthüllen.
“Die Kassette gehörte Antonie Brentano”, erklärte er.
Da Erika mit dem Namen nichts anfangen konnte, erläuterte er ihr, dass Antonie Brentano eine von Beethovens engsten Freundinnen war, wenn nicht gar eine, in die er unsterblich verliebt war. “Beethoven war sogar mit zweien unserer Gründerväter befreundet”, ergänzte er. “Er kannte sowohl Caspar Niedermeier als auch Rudolph Toller.” Als Historiker der Gesellschaft hatte er sämtliche im Kellergewölbe untergebrachten Archivalien studiert. “Als ich das Kästchen für eine anstehende Auktion katalogisieren wollte, habe ich festgestellt, dass Antonie Brentano sie von Beethoven geschenkt bekommen hatte.”
“Bewundernswert, auf welch verschlungenen Pfaden Sie Ihre Nachforschungen betreiben”, bemerkte Fremont Brecht. “Höchst amüsant dazu. Aber spannen Sie mich nicht so auf die Folter! Sie sagten, in der Schachtel sei etwas versteckt gewesen. Was denn?”
“Ein handgeschriebener Brief von Ludwig van Beethoven.”
Im Kamin knackte zischend ein Scheit. Bevor Jeremy weitersprach, blickte er hinüber zur Feuerstelle und dann zu der Nische mit der koptischen Urne. Caspar Niedermeier war im Jahre 1813 gestorben, nachdem er in Indien ein antikes flötenähnliches Blasinstrument gefunden hatte. Ein Jahr später übergab sein Kompagnon Rudolph Toller genau diese Flöte an Ludwig van Beethoven. Er bat ihn, die Melodie zu entschlüsseln, die angeblich in einem komplizierten Code in das Instrument eingraviert war.
“Laut unseren Unterlagen enthält die Urne da drüben die pulverisierten Überreste der ‘Flöte der untergegangenen Erinnerungen’, die Beethoven zurückgab, nachdem er sie entzweigeschlagen hatte. Mehr blieb von ihr nicht übrig.”
Brecht runzelte die Stirn. “Aber in dem Brief steht etwas anderes?”
“Beethoven schreibt, er habe die Zerstörung der Flöte lediglich vorgetäuscht. Was er zurückgegeben habe, sei bloß getrockneter, zertrümmerter Tierknochen. Die echte Flöte habe er behalten. Sie sei viel zu wertvoll, um sie zu zerstören – gleichzeitig aber auch zu gefährlich, um sie jemandem anzuvertrauen. Er schreibt, er habe sie versteckt. ‘Zu unser aller und unserer Kindeskinder Schutz’ , so der genaue Wortlaut.”
“Halten Sie den Brief für echt?”, wollte Brecht wissen.
“Spätestens Montag liegt ein Sachverständigengutachten vor.”
“Schreibt er denn, wo er die echte Flöte versteckt hat?”, fragte Dr. Aldermann.
“Nicht direkt.”
“Wäre ja auch zu schön gewesen”, brummte Brecht.
“Umsonst ist eben nur der Tod”, konterte Dr. Aldermann mit einem traurigen Lachen.
“Beethoven führt weiter aus, er habe jedem seiner engsten Freunde einen einzigen Hinweis zukommen lassen, einen Schlüssel, wenn Sie so wollen. So konnten sie
Weitere Kostenlose Bücher