Der Beethoven-Fluch
Sein Gesicht war tränenüberströmt.
“Hast du die Kassette?”, schrie sie über das Getöse hinweg.
Ehe er antworten konnte, kam einer der Wachleute laut brüllend herbeigestürzt, auch er in Tränen aufgelöst und mit hochrotem Gesicht. Mit jeder Sekunde verzog der Qualm sich mehr; weitere Sicherheitsleute wurden sichtbar, die Gestürzten aufhalfen und ihnen aus dem Saal heraushalfen. Überall auf dem Fußboden lagen umgestürzte Ausstellungsstücke und die Scherben von zerbrochenen Kunstgegenständen.
“Was sagt der Mann da?”, schrie Meer. Selbst in den eigenen Ohren klang ihre Stimme hysterisch.
“Das war kein Brand!”, rief ihr Vater. “Es war Tränengas! Das … das … kann nur ein Ablenkungsmanöver gewesen sein!”
Meer packte ihn beim Arm. “Was ist mit der Kassette?”
“Sie ist weg!”
30. KAPITEL
M oravský Krumlov/Mährisch Kromau, Tschechische Republik
Montag, 28. April – 11:14 Uhr
Während der Fahrt über die baumgesäumte Landstraße passierte David in unregelmäßigen Abständen Altäre, errichtet zu Ehren Christi oder der Muttergottes oder anderen ihm unbekannten Heiligen. Ja, hätten die bemalten Gipsfiguren einen bloß wirklich vor Gefahr oder Leid beschützen können, wie es so viele glaubten! Bis vor Kurzem war auch David so etwas wie ein glaubenstreuer Jude gewesen. Jetzt hingegen glaubte er nur noch an die Existenz des Bösen.
Zwei Stunden nach seiner Abreise von Wien an seinem Ziel angelangt, stellte David den Mietwagen ab, stieg aus, vertrat sich die langen Beine und sah sich um. Es war trüb unter dem grauen Himmel. Die zuvor üppige grüne Landschaft war in kümmerliche Vegetation übergegangen; Hinterlassenschaft von längst verwelkten Gärten und einem düsteren Renaissanceschloss, das dringend einer Renovierung bedurfte. Früher einmal musste es ein beeindruckendes Bauwerk gewesen sein, doch jetzt platzte der gelbe Fassadenanstrich ab, und auf dem Dach fehlten Dutzende der sienaroten Ziegel.
Versteckt inmitten der südmährischen Provinz, eine Autostunde von der nächsten größeren Stadt entfernt, war Schloss Moravský Krumlov ohnehin schon ein denkbar ungeeigneter Ort für das kostbarste Kunstwerk der gesamten Republik. Und erst recht für ein Rendezvous mit der Kontaktperson einer terroristischen Untergrundzelle.
Kam man durch das Eingangstor ins Innere, wo es sogar noch feuchter war als draußen, stellte man fest, dass Wände und Fußböden in einem noch schlechteren Zustand waren als das Äußere des Gebäudes. Nachdem er fünfzig tschechische Kronen für eine Eintrittskarte hingeblättert hatte, folgte David den Schildern bis zu einer Treppe, deren Stufen unter seinen Füßen vernehmbar knarrten. Ehe er in die erste Galerie gelassen wurde, reichte ihm eine Frau mit einem roten Kopftuch zwei braune Filzbeutel und bedeutete ihm stumm, er solle sie über die Schuhe streifen. Doch die Dinger waren so glatt, dass man beim Gehen ins Rutschen geriet.
In der ersten Ausstellung saß eine Gruppe bestrumpfter Kinder im Schneidersitz auf dem Boden und lauschte einer jungen Frau, die auf Tschechisch einen Vortrag hielt. Erstaunlicherweise ohne zu zappeln oder zu flüstern, starrten alle auf das Gemälde, das eine ganze Wand einnahm: “Das slawische Epos” . Davids achtjähriger Sohn Ben hätte im Leben nicht so still in Socken dagesessen, sondern wäre unweigerlich in seinen Filzpantoffeln auf den breiten Holzdielen Schlittschuh gelaufen.
David schlug das vom Kartenschalter mitgenommene englischsprachige Informationsblatt auf und las die Angaben zu dem Bild, das die Kinder so hingerissen betrachteten.
Das sieben Meter breite und zehn Meter hohe Wandgemälde veranschaulicht das erste Kapitel der eintausend Jahre alten slawischen Nation.
Den Mittelpunkt der Leinwand bildete ein sternenbekränztes Firmament. Darunter verbargen sich Adam und Eva vor geisterhaften, furchterregenden Reitern, die mit eingelegten Lanzen auf sie zusprengten. Im Hintergrund war ein brennendes Dorf zu sehen, die Flammen leuchtend orangerot wie ein Sonnenaufgang. Laut Informationsblatt waren zwanzig solcher monumentaler Heldenepen ausgestellt, alle geschaffen von dem tschechischen Jugendstilmaler Alfons Mucha.
Wie von seinem Mittelsmann angewiesen, schlenderte David durch die Gänge und begutachtete jedes Gemälde so, als täte er es aus Interesse. Ansprechen sollte er niemanden; zu gegebener Zeit, so die Anweisung, werde man sich bei ihm melden. Gerade hatte er den vorletzten Saal
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