Der Bernsteinring: Roman
nickte und verwickelte die beiden Frauen in ein munteres Gespräch, das von anzüglichen Gesten und viel Gegacker begleitet war. Aber es führte zum Erfolg, und Erwin deutet auf eine heruntergekommene Behausung hin, die einige Schritt weiter die Gasse hinein stand.
Die Hütte hatte nur einen Raum, und es roch nach modrigem, feuchtem Stroh, Hühnermist und schalem Alkohol. Niemand hielt sich darin auf, aber Anna nahm ihren Mut zusammen und trat ein.
»Hallo, Junge! Vally? Bist du hier?«
Die Hintertür scharrte über den gestampften Lehmboden, und das magere Kind kam in den Raum.
»Oh, edle Damen? Was macht Ihr denn hier?«
Anna hatte zwar ein schlichtes, dunkelbraunes Kleid gewählt, aber selbst das musste in dieser Gegend Aufsehen erregen. Ihr fiel aber jetzt ein, dass das Kind sie womöglich nicht erkennen würde, da sie bei der ersten Begegnung ihre Kanonissentracht getragen hatte.
»Wir haben uns vor drei Tagen getroffen, Junge. Und ich wollte mich bei dir bedanken. Du hast mir und Mutter Dionysia sehr geholfen, als der Bär los war.«
»Ach!«, seufzte das Kind und lehnte sich an den Türpfosten. »Die Bärin. Ich wollt, ich könnt’s vergessen.« Er schniefte. »Ihr seid die Schwester Nonne. Was ist mit der alten Nonne?«
»Sie starb. Vor Schreck vermutlich. Aber sie war auch wirklich schon alt und nicht mehr recht gesund.
»Das tut mir Leid, Schw... ehrwürdige Schwester.«
»Wir sind übrigens Kanonissen vom Marienstift und keine Nonnen. Das ist Rosa von Gudenau, und ich heiße Anna di Nezza.«
»Anna Dennesa?«
»So ähnlich. Sag, wo sind deine Eltern? Hast du noch Geschwister?«
»Eltern? Meine Mutter ist fort. Mein Alter und der Bruder sind auf Viehtrieb. Die Schwester ist auf’m Berlich. Kann Euch nicht weiterhelfen.«
So ähnlich hatte sich Anna das auch vorgestellt. Keine bekömmliche Umgebung für einen Jungen mit einer liebevollen Seele.
»Wenn hier jemand helfen soll, dann bin ich es. Kann ich irgendetwas für dich tun, Vally?«
»Ach, es geht schon. Oder... Ihr könntet mir ein paarGroschen für Hühnerfutter geben. Gibt nicht viel zu picken im Moment. Und ich brauch die Eier. Zum Tauschen, wisst Ihr.«
»Das will ich auch gerne tun, aber – mh, sag mal, wie alt bist du eigentlich?«
»Weiß nicht genau.«
Leicht verloren sah sich Anna um. Ihr Vorhaben hatte sie etwas planlos begonnen, musste sie jetzt feststellen. Mit Geld war dem Kind wahrhaftig nicht geholfen. Das war zu flüchtig. Immerhin machte der Junge einen aufgeweckten Eindruck und konnte sich sogar einigermaßen ausdrücken. Außerdem sah die Hütte nicht ganz so verwahrlost aus, wie es hätte sein können. Die Herdstelle war aufgeräumt, die angeschlagenen Steingutschüsseln waren sauber gewischt, die verschlissenen Decken auf den Strohsäcken in der Ecke zusammengefaltet.
»Wer sorgt hier für dich?«
»Ich.«
»Hör mal, du kannst nicht viel älter als acht oder neun Jahre sein. Seit wann lebst du denn alleine?«
»Seit Ostern, Frau Anna Dennesa. Es geht ganz gut, ehrlich. Ihr braucht Euch nicht kümmern. Ich hab die Bettelerlaubnis an der Findeltür am Dom.«
»Wer hat sich denn bis Ostern um dich gekümmert?«
»Die alte Moen, von nebenan. Aber die ist gestorben. Sie war Magd bei den Reuerinnen. Da hat sie mich früher oft mit hingenommen. Die Schwestern Humilia war nett zu mir. Sie hat mir drei Hühner geschenkt, als die Moen nicht mehr war.«
»Mehr haben sie nicht für dich getan?«
Der Junge zuckte mit seinen knochigen Schultern.
»Ich hätt’ bleiben können. Aber, verzeiht, Frau Anna, die waren mir zu heilig. Ich hab’s nicht so mit dem Beten. Hier komm ich gut zurecht.«
Anna schmunzelte. Plötzlich kamen ihr zwei Gedanken. Beide miteinander ergaben eine Lösung.
»Sag mal, Vally – du bist gar kein Junge, nicht wahr?« »Hier ist’s besser, ich bin einer. Aber Ihr habt Recht.« »Wie heißt du wirklich?«
»Valeska.«
»Weiter?«
»Nix.«
»Valeska Nix.«
Die Kleine kicherte.
»Valeska, hättest du Lust, meine Magd zu werden? Ich meine, wir müssten zwar noch ein wenig an dir polieren, aber ich denke, du verstehst es zumindest, Ordnung zu halten.«
»Eu... Eure Magd?«
»Ich habe bislang keine eigene gebraucht, die Mägde vom Stift haben sich um alles gekümmert. Aber jetzt sieht es so aus, als ob ich neue Aufgaben übernehmen muss, und es wäre sehr nützlich, wenn ich jemanden zu meiner persönlichen Bedienung hätte. Jemand, der für meine Kleider sorgt, meine Kammer rein hält,
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