Das Opfer
1
Der Geschichtsprofessor und die beiden Frauen
Als Scott Freeman den Brief, den er im Zimmer seiner Tochter in der obersten Kommodenschublade gefunden hatte, zusammengeknüllt hinter alten, weißen Sportsocken, zum ersten Mal las, begriff er mit einem Schlag, dass jemand sterben würde.
Er hätte dieses Gefühl nicht wirklich benennen können, aber es überkam ihn wie eine böse Ahnung und nistete sich eiskalt in seinem Hinterkopf ein. Er stand wie erstarrt und las immer wieder dieselben Worte:
Keiner könnte dich jemals so lieben wie ich, weder heute, noch irgendwann. Wir sind füreinander bestimmt, und daran wird nichts und niemand etwas ändern. Gar nichts. Wir werden für immer zusammen sein. So oder so
. Der Brief trug keine Unterschrift.
Er war auf gewöhnlichem Computerpapier getippt – kursiv gesetzt, so dass es an eine altmodische Handschrift erinnerte. Da Scott keinen Umschlag dazu finden konnte, gab es weder Absender noch Poststempel, die ihm weitergeholfen hätten. Er legte den Brief auf den Schreibtisch und versuchte, die Knitter zu glätten, die dem Blatt Nachdruck und Bedrohlichkeit verliehen. Er betrachtete die Worte aufs Neue und versuchte, sie in einem harmlosen Licht zu sehen. Die Liebesbeteuerungen eines Grün schnabels, nichts weiter als die Vernarrtheiteines Kommili tonen, eine Schwärmerei, die Ashley nur deshalb vor ihnen verschwiegen hatte, weil sie selbst nur eine alberne Gefühls duselei darin erkennen konnte. Im Ernst, versuchte er sich einzureden, du siehst Gespenster.
Doch nichts konnte verhindern, dass es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief.
Scott Freeman hielt sich nicht für einen unbesonnenen oder leicht aufbrausenden Mann. Er neigte weiß Gott nicht zu Kurzschlussreaktionen, sondern war ein Mensch, der grundsätzlich das Für und Wider jeder Entscheidung abwog und jede Facette seines Lebens unter die Lupe nahm wie einen geschliffenen Diamanten. Er war durch und durch Akademiker. Als Reminiszenz an seine Jugend in den späten sechziger Jahren trug er sein Haar zottelig lang, meist lief er in Jeans und Turnschuhen herum, dazu standesgemäß ein abgetragenes Kord jackett mit Lederflicken an den Ärmeln. Zum Autofahren wie zum Lesen brauchte er jeweils eine Brille, und er achtete darauf, dass er sie immer bei sich hatte. Mit täglicher sportlicher Betätigung hielt er sich fit – bei gutem Wetter durch Joggen, im langen New England-Winter auf einem Laufband im Haus. Teils machte er das zum Ausgleich dafür, dass er sich zuweilen einsam betrank und sich manchmal zum Scotch on the Rocks eine Marihuanazigarette gönnte. Scott war stolz auf seine Lehrtätigkeit, die ihm jeden Tag aufs Neue Gelegenheit bot, sich vor einem vollen Hörsaal wirkungsvoll in Szene zu setzen. Außerdem liebte er sein Fachgebiet und fieberte jeden Sommer dem September entgegen, statt den müden Zynismus vieler seiner Kollegen zu teilen. Er führte, fand er, ein äußerst geregeltes Leben, und da er den Details der Vergangenheit vielleicht allzu viel Begeisterung entgegenbrachte, leistete er sich als Kontrastprogramm einen zehn Jahre alten Porsche 911, den er – außer wenn es schneite – tagtäglich zu plärrenderRock-and-Roll-Musik fuhr. Für den Winter hielt er sich einen ramponierten Pick-up. Er hatte die eine oder andere Affäre, allerdings nur mit Frauen seines Alters, die ihre Erwartungen nicht allzu hoch schraubten und ihn nicht daran hinderten, seine ganze Passion den Red Sox, den Patriots, den Celtics und den Bruins sowie sämtlichen Sportmannschaften am College zu widmen.
Er hielt sich für einen Mann der Routine, und manchmal kam ihm der Gedanke, dass er in seinem ganzen Leben als Erwachsener nur drei richtige Abenteuer erlebt hatte: Einmal hatte ihn, als er mit Freunden vor der Felsenküste Maines Kajak fuhr, eine starke Strömung und ein plötzlicher Nebel von seinen Gefährten getrennt, und er war stundenlang in einer grauen, stillen Dunstglocke dahingetrieben, in der die einzigen Geräusche, die ihn begleiteten, das Klatschen der Wellen an die Plastikwände seines Kajaks und das gelegentliche Luftschnappen einer Robbe oder eines Tümmlers in seiner Nähe waren. Die feuchte Kälte war ihm den Rücken hochgekrochen und hatte ihm die Sicht getrübt. Er hatte gewusst, dass er sich in Gefahr befand, vielleicht sogar weit mehr, als er ahnte, doch er hatte nicht die Nerven verloren, sondern gewartet, bis das Boot der Küstenwache aus dem Nebel auftauchte. Der Kapitän hatte ihm klargemacht,
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