Der Bernsteinring: Roman
einmal die eine Angelegenheit erledigt haben wollen. Die Aussicht auf weitere Operationen ist nicht gerade beschwingend, nicht wahr?«
»Das ist das eine, Dr. German. Aber das, was ich gesagt habe, habe ich wirklich so gemeint. Die Narbe stört mich nicht, und sie hat sozusagen Erinnerungswert.«
»Dann sind Sie eine echte Ausnahme, Frau Kaiser. Die meisten Menschen würde nur zu gerne alles das vergessen, was mit einem solchen traumatischen Erlebnis wie dem Unfall zusammenhängt.«
»Wer sagt Ihnen denn, dass sie mich an den Unfall erinnert?«
»Nicht?«
»Nein, daran nicht.«
»Ihr Gesichtsausdruck, Frau Kaiser, ist mehr als hintersinnig. Sie fangen an, mich außerordentlich neugierig zu machen.«
»Mache ich das?«
»Ein rein klinisches Interesse!«
»Natürlich!«
Er war nett, der Doktor. Er war ehrlich interessiert, möglicherweise sogar mehr, als es sein Beruf nötig machte. Aber was soll’s, dachte ich, denn in mir stieg plötzlich der Wunsch auf, ihm von der Erinnerung zu erzählen, die ich mit dieser Narbe verband. Darum folgte ich seiner Einladung, die er gerade aussprach, wenngleich sie ein wenig makaber klang.
»Wissen Sie was, es ist Mittagszeit. Gehen wir in die Pathologie, etwas essen, und Sie verraten mir, was eine so schöne Frau wie Sie dazu bringt, mit einem solchen Mal im Gesicht leben zu wollen.«
»In die Pathologie, natürlich. Es heißt, menschlicher Hinterschinken sei sehr bekömmlich.«
»Verzeihung, kruder Mediziner-Jargon. Ich meinte das Steakhaus gegenüber.«
»Wie konnte ich nur etwas anderes vermuten. Also gut, ich komme mit und erzähle es Ihnen. Kann ich mich auf Ihre ärztlich Schweigepflicht verlassen?«
»Selbstredend. Wir können auch in die Sandwichbar nebenan gehen, wenn Ihnen das lieber ist. Um diese Zeit ist dort wenig los.«
»Die sollten Sie dann aber ›Zum blutigen Tupfer‹ umbenennen. Sandwichs haben so etwas Aufsaugendes.«
Er lachte. »Sie könnten von der gleichen Gilde sein wie wir. Das werde ich weitergeben!«
Wir gingen in die Sandwichbar, und als ich meinenKakao vor mir stehen hatte, lehnte ich mich zurück und suchte einen Anfang.
»Eine schöne Erinnerung?«, fragte Dr. German aufmunternd.
»Wie man es nimmt. Vor drei Tagen habe ich einen Mann getroffen. Eine zufällige Begegnung, die sich buchstäblich explosionsartig entwickelte. Es ging eine Anziehungskraft von ihm aus, gegen die ich mich schlichtweg nicht zur Wehr setzen konnte. Habe Sie schon einmal so etwas erlebt?«
Er zeigte mir ein etwas schiefes Lächeln.
»Ja, wenn man so will, habe ich das. Gerade heute.« »Oh.«
»Verzeihen Sie, ich sollte so etwas nicht sagen.«
»Sie sind Arzt. Sie streichen Balsam auf eine Wunde.« »Er hat Ihnen wehgetan?«
»Nein, das hat er nicht. Ganz im Gegenteil. Das Problem liegt bei mir. Ich habe seine Adresse und seine Telefonnummer verloren. Ich weiß nicht, wo ich ihn suchen soll. Ich kenne nur seinen Vornamen. Valerius.«
Als ich den Namen aussprach, überzog mich eine prickelnde Gänsehaut.
»Und er hat Ihre Adresse ebenfalls nicht?«
»Auch er weiß nur, dass ich Anahita heiße und gewöhnlich Anita gerufen werde.«
»Sie haben überhaupt keine Ahnung, was er zum Beispiel von Beruf ist, in welcher Stadt er wohnt, wer seine Bekannten sind?«
»Er hat eine Wohnung in Köln, aber das hilft mir nicht viel weiter, denn in Köln gibt es etliche Wohnungen.«
»Ja – aber Sie müssen doch miteinander gesprochen haben. Irgendeinen Anhaltspunkt über seine Identität gibt man doch immer preis.«
»Wir haben nicht viel gesprochen!«, sagte ich undschloss die Augen in der Erinnerung an eine überwältigende körperliche Erfahrung.
»Ja, aber, was... Oh.«
Dr. German verstummte, und sein Gesicht war dunkelrot geworden. Er hatte wohl gerade eine Erleuchtung darüber, wobei es sich bei unserem Treffen gehandelt hatte. Ich lachte leise auf und bestätigte ihm: »Schon richtig, was Sie denken. Ich sagte doch, es gab da eine Anziehungskraft, gegen die zu wehren mir unmöglich war. Ihm übrigens auch.«
Mein Gegenüber rang bewundernswert mit seiner Fassung, nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee, fand zu einer etwas normaleren Gesichtsfarbe zurück und fragte dann nüchtern: »Was aber hat die Narbe mit ihm zu tun?«
»Ich möchte, dass er mich wieder erkennt, wenn wir uns erneut begegnen. Er – sie hat ihn nicht abgestoßen, wissen Sie.« Und wieder hörte ich, was Valerius dazu gesagt hatte, und wiederholte es flüsternd für mich:
Weitere Kostenlose Bücher