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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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auf den Strohsäcken, sodass ich glaubte, er schliefe, aber auf das Geräusch meiner Stiefelabsätze hin setzte er sich auf. Seine Augen waren gerötet, seine Wangen nass. Also hatte er nicht geschlafen, sondern getrauert. Ich sperrte mit den Schlüsseln auf, nachdem er sie mir hingeschoben hatte, setzte mich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schultern. Das war etwas, was mir nicht leichtfiel – ich weiß, was Trost und Mitgefühl sind, aber ich habe nie gut damit umgehen können. Andererseits wusste ich, wie es war, einen Elternteil zu verlieren. So viel hatten Young Bill und Young Roland gemeinsam.
    »Hast du deine Süßigkeiten denn schon alle aufgegessen?«, fragte ich.
    »Will den Rest nicht mehr«, sagte er und seufzte.
    Draußen heulte eine Bö heran, die das Gebäude erzittern ließ, dann flaute der Wind wieder etwas ab.
    »Ich mag dieses Geräusch nicht«, sagte er – genau das, was schon Jamie DeCurry gesagt hatte. Darüber musste ich schwach lächeln. »Und ich mag es nicht, hier drin zu sein. Es kommt mir vor, als hätte ich was verbrochen.«
    »Das hast du nicht«, sagte ich.
    »Vielleicht nicht, aber mir kommt’s so vor, wie wenn ich schon endlos lange hier wär. Eingesperrt. Und wenn sie nicht bis abends zurückkommen, muss ich noch länger bleiben. Hab ich recht?«
    »Ich leiste dir Gesellschaft«, sagte ich. »Vielleicht haben die Hilfssheriffs ja ein Kartenspiel, dann können wir Zwölfern spielen.«
    »Für Babys«, sagte er missmutig.
    »Dann Watch Me oder Poker. Kannst du das spielen?«
    Er schüttelte den Kopf und fuhr sich dann über die Wangen. Seine Tränen flossen wieder.
    »Ich bring’s dir bei. Wir spielen um Streichhölzer.«
    »Ich möchte lieber die Geschichte hören, von der Ihr gesprochen habt, als wir in der Schäferhütte gerastet haben. Wie sie heißt, hab ich vergessen.«
    »Der Wind durchs Schlüsselloch«, sagte ich. »Die ist aber lang, Bill.«
    »Wir haben Zeit, oder nicht?«
    Dem konnte ich nicht widersprechen. »Und die Geschichte ist manchmal auch gruselig. Das ist in Ordnung für einen Jungen, wie ich einer war – der mit seiner Mutter neben sich im Bett gesessen hat –, aber nach allem, was du durchgemacht hast …«
    »Ist mir egal«, sagte er. »Geschichten lenken einen ab. Das heißt, wenn sie gut sind. Ist sie denn gut?«
    »Ja. Mir hat sie jedenfalls immer gefallen.«
    »Dann erzählt sie.« Er lächelte schwach. »Dafür könnt Ihr sogar zwei von meinen letzten drei Schokofingern haben.«
    »Die gehören dir«, sagte ich. »Aber ich könnte mir ja eine Zigarette drehen.« Ich überlegte, wie ich beginnen sollte. »Kennst du die Geschichten, die mit ›Es war einmal vor langer Zeit, lange bevor der Großvater deines Großvaters geboren war‹ anfangen?«
    »So fangen alle an. Wenigstens die, die mein Da’ mir immer erzählt hat. Bevor er gesagt hat, ich wär jetzt zu alt für Geschichten.«
    »Für Geschichten ist man nie zu alt, Bill. Mann und Junge, Mädchen und Frau, man ist niemals zu alt dafür. Wir leben für sie.«
    »Sagt Ihr das?«
    »Das tu ich.«
    Ich hatte Blättchen und Tabak herausgeholt. Ich drehte langsam, denn damals hatte ich noch wenig Übung darin. Als ich eine Selbstgedrehte nach meinem Geschmack fertig hatte – mit einer ganz dünnen Öffnung an dem Ende, an dem man zog –, riss ich ein Streichholz an der Zellenwand an. Bill saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem der Strohsäcke. Er nahm einen der Schokofinger, drehte ihn zwischen den Fingern, wie ich die Zigarette gedreht hatte, und schob ihn sich dann in den Mund.
    Ich begann langsam und systematisch, denn auch das Geschichtenerzählen fiel mir in jenen Tagen nicht leicht … obwohl es etwas war, was ich im Lauf der Zeit gut lernte. Weil ich musste. Das müssen alle Revolvermänner. Aber sobald ich einmal angefangen hatte, sprach ich zunehmend freier und natürlicher. Weil ich die Stimme meiner Mutter hörte. Sie sprach mit allen Hebungen, Senkungen und Pausen aus meinem Mund.
    Ich konnte sehen, wie Bill in der Geschichte aufging, und das gefiel mir – es war fast so, als hypnotisierte ich ihn wieder, allerdings auf bessere Weise. Auf ehrlichere Weise. Das Beste daran war jedoch, dass ich wieder die Stimme meiner Mutter hörte. Es war, als würde sie mir, tief aus meinem Inneren kommend, zurückgegeben. Es schmerzte natürlich, aber das tun die besten Dinge meistens, wie ich seither festgestellt habe. Das würde man nicht glauben, aber – wie die Alten zu sagen pflegten

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