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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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einem damals noch zivilisierten Land. Tim hatte seinen Vater einmal gefragt, was zivilisiert bedeute.
    »Steuern«, hatte er gesagt und gelacht – aber nicht wie über etwas Komisches.
    Die meisten Holzfäller drangen nicht tiefer vor als bis zu den Blossholzhainen. Selbst dort konnten plötzlich Gefahren drohen. Schlangen waren am gefährlichsten, aber es gab auch Wervel: giftige Nagetiere in Hundegröße. Im Lauf der Jahre waren viele Männer in den Blossies geblieben, aber insgesamt lohnte Blossholz das Risiko. Es war ein schönes Holz mit einer feinen Maserung, goldfarben und beinahe so leicht, dass es in der Luft schwebte. Aus ihm ließen sich gute Binnenschiffe bauen, für seegängige Schiffe taugte es allerdings nicht, weil jeder mäßige Sturm ein Schiff aus Blossholz zertrümmert hätte.
    Für Hochseeschiffe wurde Eisenholz gebraucht, und für Eisenholz zahlte Hodiak, der Aufkäufer der Baronie, der zweimal im Jahr zur Treemühle kam, gute Preise. Es war das Eisenholz, das dem Endlosen Wald seine grünlich schwarze Färbung gab, und nur die tapfersten Holzfäller holten es aus dem Wald, denn auf dem Eisenholzpfad – der kaum in den Saum des Endlosen Waldes eindrang, wie wir gehört haben – lauerten Gefahren, im Vergleich zu denen die Schlangen, Wervel und Mutie-Bienen der Blossholzhaine harmlos wirkten.
    Zum Beispiel Drachen.

So kam es, dass Tim Ross in seinem elften Jahr  
    seinen Da’ verlor. Nun gab es keine Axt mehr und keine Glücksmünze, die an einer dünnen Silberkette um Big Ross’ muskulösen Hals hing. Bald würde es vielleicht auch weder ein Familiengrundstück in der Stadt noch überhaupt gar einen Platz auf der Welt für sie mehr geben. Denn in jenen Tagen kam ungefähr zur Zeit der Vollerde der Steuerbeauftragte der Baronie vorbei. Er brachte eine Rolle Pergamentpapier mit, auf der die Namen aller Familien in Tree mit einer hinzugesetzten Zahl aufgelistet waren. Diese Zahl war die Steuer, die zu entrichten war. Konnte man sie zahlen – vier bis sechs Silberlinge, für die größeren Anwesen sogar ein Goldstück –, war alles in Ordnung. Konnte man es aber nicht, zog die Baronie die Parzelle ein und schickte einen auf Wanderschaft. Berufung dagegen gab es keine.
    Tim ging halbtags ins Häuschen der Witwe Smack, die Kinder unterrichtete und dafür mit Naturalien bezahlt wurde – meistens Gemüse, selten ein Stück Fleisch. Vor langer Zeit, bevor Blutgeschwüre sie befallen und ihr das halbe Gesicht weggefressen hatten (das flüsterten die Kinder, obwohl keines das jemals gesehen hatte), war sie eine vornehme Dame am Sitz der Baronie gewesen (behaupteten manche Eltern, obwohl das niemand bestimmt wusste). Jetzt trug sie einen Gesichtsschleier und unterrichtete begabte Jungen und sogar ein paar Mädchen in Lesen und Schreiben und der leicht anrüchigen Kunst, die als Mathmatika bekannt war.
    Sie war eine beängstigend kluge Frau, die keinen Unfug duldete und an den meisten Tagen unermüdlich war. Trotz Schleier und den dahinter verborgenen imaginären Schrecken gewannen ihre Schüler sie im Allgemeinen lieb. Es kam jedoch vor, dass sie am ganzen Leib zu zittern begann und ausrief, ihr armer Kopf platze und sie müsse sich hinlegen. An solchen Tagen schickte sie die Kinder heim und trug ihnen dabei manchmal auf, ihren Eltern auszurichten, sie bereue nichts, am allerwenigsten ihren schönen Prinzen.
    Ungefähr einen Monat nachdem der Drache Big Ross aus seinen Stiefeln gebrannt hatte, hatte Sai Smack einen ihrer Anfälle, und als Tim in das Schönblick genannte elterliche Häuschen zurückkam, sah er durchs Küchenfenster, dass seine Mutter den Kopf auf den Tisch gelegt hatte und weinte.
    Er ließ die Schiefertafel mit seiner Mathmatika -Aufgabe fallen (eine lange Teilung, vor der ihm gruselte, obwohl sie sich letztlich nur als umgekehrte Vervielfachung erweisen sollte) und lief zu ihr. Sie sah zu ihm auf und bemühte sich zu lächeln. Der Gegensatz zwischen angehobenen Mundwinkeln und tränennassen Augen bewirkte, dass Tim am liebsten auch losgeheult hätte. Es war der Anblick einer Frau, die am Ende ihrer Kräfte war.
    »Was gibt’s, Mama? Was hast du?«
    »Ich hab nur an deinen Vater gedacht. Manchmal fehlt er mir so. Warum kommst du früher heim?«
    Er hob an, es ihr zu erklären, aber als er die Lederbörse mit der Zugschnur gewahr wurde, verstummte er sogleich. Seine Mutter hatte einen Arm darauf gelegt, wie um sie zu verbergen, und als sie sah, dass er sie betrachtete, fegte sie

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