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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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I
    Das hatte es seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gegeben: nach Satowka kamen Fremde! Nicht Besuch aus der Nachbarschaft, auch nicht aus der Kleinstadt Batkit – und das war schon selten, denn wenn von dort jemand kam, war's ein Parteifunktionär oder einer von der Steuer, Gott strafe ihn! –, nein, richtige Fremde mit vier Lastautos, zwei Geländewagen und einer fahrbaren Funkstation. Sie quälten sich über den schmalen Pfad, den man in die Taiga geschlagen hatte, mühsam vorwärts, hupten aber trotzdem fröhlich, als sie in Satowka einfuhren.
    Jefim Aronowitsch Tschasski, ein harmloser Idiot, der nur grinste und wie ein Affe aussah, und von dem sein Mütterchen behauptete, er sei als Säugling aus der von der Decke schaukelnden Wiege gefallen, und daher sei er nun ein armer Mensch mit einem platten Gehirn, eben jener sagte beim Betrachten der fremden Kolonne: »Jesus, hilf uns! Ich höre das Unglück brummen!« Er meinte damit sicherlich die Motoren, aber bei Jefim Aronowitsch duldete man solchen Unsinn ohne Widerspruch.
    Besuch in Satowka! Na ja, werden alle sagen, was ist schon dabei? Warum soll Satowka nicht einen Hauch der weiten Welt mitbekommen? So fragen kann nur einer, der nicht weiß, wo Satowka liegt.
    Da gibt es in Sibirien, dort, wo es am einsamsten ist und wo selbst die Biber mit Tränen in den Augen ihre Wasserburgen bauen, einen schönen breiten Fluß, den man die Steinige Tunguska nennt. Weil sich das Wasser durch das flache Hügelland gesägt hat und die Ufer des Stromes nun riesige Geröllhalden sind, wird sie so genannt: Ein Fluß mit klarem Wasser, mit silbernen Fischen, mit Buchten, in denen Luchs und Bär baden und Renhirsche ihren Durst stillen. Ein Paradies, wenn das Land nicht so dicht mit Urwald überwuchert wäre. Ein Mensch, wenn er durch diese Taiga zieht, hat das Gefühl, die Welt sei eben erst erschaffen worden und er sei der einzige, der auf ihr lebe.
    Und nördlich der Steinigen Tunguska, am Rande des Golez-Kamms, einem Hügelzug, wo sich zwei Taigapfade kreuzen, dort liegt das Dorf Satowka. Genau dreiundvierzig von Gärten umgebene Holzhäuser, mit steinbewehrten Dächern, ein paar Gemüsefelder, der Taiga abgerungen, das war eigentlich schon alles. Und, natürlich, eine Kirche! Auch aus Holz, mit einem Türmchen und einer Glocke darin, die aus Omsk gekommen war, nachdem man den Patriarchen endlich davon hatte überzeugen können, daß an der Steinigen Tunguska ehrbare Gläubige lebten und nicht Überbleibsel aus der Kreidezeit.
    Die Welt ist seltsam. Normalerweise wäre kein vernünftiger Mensch auf den Gedanken gekommen, hier ein Dorf zu bauen. Aber da hatte es vor 150 Jahren einen Hauptmann des Zaren gegeben, der sich mit einhundertzehn nach Sibirien Verbannten auf dem Weg von Poligus nach Batkit verlaufen hatte. Zwei Wochen war er ziellos durch die Taiga geirrt, fluchend, Gott verdammend und sein Schicksal beklagend. Er merkte, daß es kälter wurde und der Winter heranzog, und deshalb hatte er eines Tages dort, wo heute Satowka liegt, beschlossen: »Hier bleiben wir! Im nächsten Frühjahr geht es weiter! Holz ist genug vorhanden – was wollen wir mehr?«
    So entstanden die ersten Häuser aus Rundhölzern, richtige, derbe Blockhütten, die kein Eissturm umwehte. Der Hauptmann nannte den elenden Flecken Satowka, warum, das weiß keiner mehr. Vielleicht war er in einem anderen Ort gleichen Namens geboren, oder seine Schwiegermutter hieß so, und nun wollte er Rache an ihr nehmen – jedenfalls starb der Hauptmann des Zaren in Satowka kurz nach der Schneeschmelze des nächsten Jahres; aber das ist eine Geschichte für sich. Zurück blieben die einhundertzehn Verbannten, zwanzig zaristische Soldaten und ein Kind, das in dem Winter geboren worden war.
    Das waren die Vorfahren der jetzigen Bürger von Satowka, und das Kindchen wurde die Urgroßmutter von Anastasia Alexejewna Morosowskaja. Geduld, wir lernen sie noch kennen!
    Die Fremden mit ihren Fahrzeugen ratterten also durch Satowka, bestaunt von den Bewohnern, und beschlagnahmten ein Stück Feld am Taigarand, das dem Bauern Wiljam Igorowitsch gehörte. Er war mächtig stolz über die Ehre, daß man gerade in sein Land Pflöcke für Zelte trieb, einen Graben aushob, der sich später als überdachte Latrine erweisen sollte, und die fahrbare Funkstation aufbaute, mit einer langen, federnden Antenne, höher als die höchsten Bäume.
    Genossen, ein Wunderwerk des Fortschritts! In Satowka hatte man so etwas noch nicht gesehen.

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