Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
nicht mehr lange zu leben gehabt. Wir sollten jetzt ins Dorf fahren und nachsehen, ob der Konstabler aus Taveres zurück ist. Unterwegs kannst du mir alles erzählen. Hilfst du mir, Misty und Bitsy anzuschirren?«
»Ja, Mama. Aber ich muss erst noch was holen. Etwas, was sie mir gegeben hat.«
»Ist recht. Aber sieh dir möglichst nicht an, was dort drinnen liegt, Tim.«
Er sah es sich nicht an. Er hob nur die Waffe auf und steckte sie sich in den Gürtel …
Der Fellmann
(Teil 2)
»Er sollte sich nicht ansehen, was drinnen lag – also die Leiche seines Stiefvaters –, und er hat versprochen, das auch nicht zu tun. Und hat es auch nicht getan. Aber er hat die Waffe aufgehoben und sich in den Gürtel gesteckt …«
»Den Vierschüsser, den die Witwe ihm gegeben hat«, sagte Young Bill Streeter. Er saß unter dem mit Kreide gezeichneten Stadtplan von Debaria an die Wand der Zelle gelehnt, hielt den Kopf gesenkt und hatte seit längerer Zeit nichts mehr gesagt, sodass ich schon glaubte, der Junge wäre eingeschlafen und ich selbst mein einziger Zuhörer. Aber er hatte offenbar doch zugehört. Draußen schwoll der auffrischende Wüstensturm zu einem Heulen an, schwächte sich dann aber wieder zu einem gedämpften Brausen ab.
»Aye, Young Bill. Er hat die Waffe aufgehoben, links in seinen Gürtel gesteckt und in den folgenden zehn Jahren seines Lebens dort getragen. Danach hat er größere Revolver getragen – Sechsschüsser.« Damit war diese Geschichte zu Ende, und ich schloss mit genau den Worten, mit denen meine Mutter all die Geschichten beendet hatte, die sie ihrem kleinen Jungen in dessen Turmzimmer vorgelesen hatte. Es machte mich traurig, diese Worte aus dem eigenen Mund zu hören. »Und so geschah es einst vor langer Zeit, lange bevor der Großvater deines Großvaters geboren war.«
Draußen sank die Abenddämmerung herab. Vermutlich würde die Gruppe, die in die Vorberge hinaufgeritten war, doch erst morgen mit den reitfähigen Salzhauern zurückkehren. Aber war das wirklich so wichtig? Während ich Young Bill die Geschichte von Young Tim erzählt hatte, war mir nämlich ein unbehaglicher Gedanke gekommen. Wäre ich der Fellmann und würde vom Sheriff und einer Handvoll Hilfssheriffs (von einem jungen Revolvermann aus dem fernen Gilead ganz zu schweigen) gefragt, ob ich satteln, aufsitzen und reiten könne – würde ich das zugeben? Bestimmt nicht. Das hätte uns gleich klar sein müssen, aber Jamie und ich waren natürlich noch sehr jung und hatten wenig Erfahrung darin, was Gesetzeshüter alles zu bedenken hatten.
»Sai?«
»Ja, Bill?«
»Ist Tim später ein Revolvermann geworden? Er war doch einer, oder?«
»Als er einundzwanzig war, sind drei Männer, die schwere Kaliber trugen, durch Tree gekommen. Sie waren nach Tavares unterwegs und hofften, einen Trupp zusammenstellen zu können, aber Tim war der Einzige, der bereit war mitzukommen. Sie haben ihn den Linkshänder genannt, denn so hat er gezogen und geschossen.
Er ist mit ihnen geritten und hat sich glänzend bewährt, denn er war furchtlos und ein ausgezeichneter Schütze. Sie haben ihn auch Tet-Fa, das heißt Freund des Tets, genannt. Und später kam der Tag, an dem er ka-tet wurde: einer der ganz wenigen Revolvermänner, die nicht aus der bewährten Linie des Elds stammten. Aber wer weiß? Wird nicht auch erzählt, dass Arthur viele Söhne von drei Frauen und noch viel mehr hatte, die auf der dunklen Seite der Bettdecke geboren wurden?«
»Ich weiß nicht, was das heißen soll.«
Dafür hatte ich Verständnis; noch zwei Tage zuvor hatte ich selbst nicht gewusst, was ein Langstab war.
»Schon gut. Er war erst als Linkshänder Ross und dann – nach der großen Schlacht am Cawn-See – als der unerschrockene Tim bekannt. Seine Mutter hat bis ans Ende ihrer Tage als große Dame in Gilead gelebt, hat meine Mutter mir erzählt. Aber alle diese Dinge sind …«
»… eine Geschichte für einen anderen Tag«, schloss Bill. »Das sagt mein Da’ immer, wenn ich mehr hören will.« Er verzog das Gesicht, und sein Lächeln verschwand. Offenbar erinnerte er sich an das Blutbad in der Schlafbaracke und den Koch, der mit der Schürze über dem Gesicht gestorben war. »Das hat er gesagt.«
Ich legte ihm wieder einen Arm um die Schultern – eine Geste, die sich diesmal etwas natürlicher anfühlte. Er war ein guter Junge. Ich beschloss, ihn nach Gilead mitzunehmen, falls Everlynne ihn nicht bei sich in Serenitas aufnehmen wollte … aber ich
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