Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
trug. So dass er sich nun auf der Terrasse, umgeben von Blumentöpfen mit vertrockneten Pflanzen, in aller Aufrichtigkeit fragte, was er im Leben hatte.
Guillermo. Seinen Job bei den Mossos d’Esquadra, als Inspektor der katalanischen Polizei, intensiv und frustrierend zugleich. Einen Kopf, der anständig zu funktionieren schien, und Lungen, die vom Tabak schon fast schwarz sein mussten. Carmen – seine Vermieterin, seine Nachbarin; seine Mutter in Barcelona, wie sie sagte. Diese Dachterrasse, von der aus das Meer zu sehen war. Einen nervigen Therapeuten, der ihn dazu brachte, um drei Uhr nachts einen solchen Stuss zu denken. Wenige Freunde, aber gute. Eine riesige Filmsammlung. Einen Körper, der es schaffte, dreimal in der Woche sechs Kilometer zu laufen (trotz der malträtierten Lungen). Was noch? Albträume. Die Erinnerung an Ruth. Die Erinnerungen mit Ruth. Die Leere ohne Ruth. Nicht zu wissen, was mit ihr passiert war, war ein Verrat an allem, was ihm etwas bedeutete: an seinen Versprechungen von früher, an seinem Sohn, selbst an seiner Arbeit. An dieser Wohnung, wo er und Ruth gelebt, sich geliebt und gestritten hatten; der Wohnung, aus der sie abgehauen war, um ein neues Leben anzufangen, in dem er nur ein Nebendarsteller war. Und trotzdem liebte sie ihn, liebten sie sich immer noch, nur anders. Er hatte gerade gelernt, mit all dem zu leben, als Ruth verschwand, sich in Luft auflöste und ihm nur dieses Schuldgefühl ließ, gegen das er seither ankämpfte.
Schluss jetzt, sagte er sich. Das bringt doch nichts. Als wärst du der Hauptdarsteller in einem französischen Film: um die vierzig, larmoyant, Mittelmaß. So einer, der zehn Filmminuten lang von einer Klippe aufs Meer schaut, bedrängt von existentialistischen Fragen, um sich dann wie ein Volldepp in die Fesseln eines jungen Mädchens zu verlieben. Er musste an das letzte Gespräch denken, vielleicht sollte man es auch besser Streit nennen, das er just vor Weihnachten mit seiner Kollegin geführt hatte, der Unterinspektorin Martina Andreu. Der Grund für ihre Auseinandersetzung war nicht der Rede wert, aber keiner schien imstande, sie zu beenden. Bis Martina ihn mit ihrer entwaffnenden Offenheit anschaute und ihm geradeheraus ins Gesicht sagte: »Héctor, mal ehrlich, wie lange hast du schon nicht mehr gebumst?«
Bevor die klägliche Antwort in seinem Kopf widerhallte, klingelte das Handy.
2
Das Blaulicht der Streifenwagen erhellte die Plaza Urquinaona, sehr zur Verwunderung der vier betrunkenen Penner, die die Holzbänke als Matratze benutzten und in dieser Nacht um ihren Schlaf gebracht wurden.
Héctor wies sich aus und stieg, nicht frei von einem mulmigen Gefühl, die Treppe zur Metro hinunter. Die Selbstmörder, die dieses Mittel wählten, waren zahlreicher als in den Medien erwähnt und von den Statistiken erfasst, wenn auch nicht so zahlreich, wie die Legenden es erzählten. In einigen war gar von »schwarzen Stationen« die Rede, von U-Bahnhöfen, wo die Anzahl der Personen, die ihrem Leben ein Ende setzten, ungleich höher war als anderswo. Um zu verhindern, was man als Nachahmereffekt kannte, wurden diese Todesfälle der Öffentlichkeit verschwiegen. Héctor konnte es zwar nicht beweisen, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass solche Selbstmorde mehr einem Augenblick der Verzweiflung entsprangen als einem bewussten Plan. Die Bahnsteigkante vor einem, die Möglichkeit, mit einem einzigen Schritt alle Probleme aus der Welt zu schaffen, diese Aussicht setzte sich durch gegen die natürliche Angst vor einem schmerzhaften Tod, vor dem Bild des eigenen zerstückelten Körpers.
Das Vorgehen der Polizei zeichnete sich jedenfalls aus durch Schnelligkeit im Handeln: den Leichnam so rasch wie möglich bergen und den Betrieb wieder aufnehmen, auch wenn diesmal, angesichts der Uhrzeit, zur Eile kein Grund war; den Vorfall kaschieren mit einer angeblichen technischen Störung oder einem sonstigen Vorkommnis, solange der Zugverkehr unterbrochen blieb. Weshalb es ihn wunderte, dass der Beamte Roger Fort sich die Mühe gemachthatte, ihn um diese Zeit zu Hause anzurufen und zu informieren.
Ebenjener Roger Fort, der ihn mit unschlüssiger Miene anschaute, als Inspektor Salgado gerade den zweiten Treppenabschnitt hinab in Richtung Bahnsteig lief.
»Inspektor, gut, dass Sie gekommen sind, ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
Der Junge hatte etwas, eine respektvolle Förmlichkeit, die Héctor schätzte und zugleich beargwöhnte. Als Ersatz für die
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