Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
junge, effiziente und recht freche Leire Castro war er jedenfalls eine Zumutung. Héctor war überzeugt, dass es der Kollegin Castro unter diesen Umständen wohl als Letztes eingefallen wäre, sich an höhere Stellen zu wenden; ohne Zweifel hätte sie sich befähigt gefühlt, die Sache allein zu regeln. Was auch der einzige Einwand war, der Héctor zu ihrer Arbeit einfiel: Leire konnte einfach nicht warten, bis die anderen zu ihren Schlussfolgerungen gelangt waren, sie griff vor und unternahm etwas auf eigene Faust, ohne sich wem auch immer anzuvertrauen. Ein Charakterzug, der nicht immer gut angesehen war in einem Job, bei dem man Ordnung und Disziplin nach wie vor mit Leistung gleichsetzte.
Doch zu seinem Leidwesen war Castro in Mutterschaftsurlaub, und Kommissar Savall hatte ihm diesen gerade aus Lleida gekommenen Polizisten ins Team gesetzt. Mit seinem dunklen Teint und dem ewigen Bartschatten, dem keine Rasur etwas anhaben konnte, seiner mittelgroßen Statur und dem Körperbau eines Rugbyspielers schien der kräftige Nachname perfekt zu ihm zu passen. Genau wie Leire war er noch keine dreißig. Beide gehörten zu dem neuen Jahrgang von Kriminalbeamten, die in die Mannschaft der Mossos d’Esquadra drängten und die Héctor allzu jung vorkamen. Vielleicht weil er sich mit seinen dreiundvierzig Jahren manchmal fühlte wie ein alter Mann.
»Geweckt nicht. Aber ich weiß nicht, ob ich mich über deinen Anruf freuen soll.«
Fort wurde rot.
»Die Leiche ist schon zugedeckt, der Abtransport erfolgt gleich …«
»Warte.« Salgado hasste dieses förmliche Gerede, meist war es die Zuflucht der Unfähigen, wenn sie nicht wussten, was sie sagen sollten. Und dann wiederholte er etwas, was man auch zu ihm gesagt hatte, als er anfing, einen Satz, der ihm damals lächerlich erschien, der ihm aber jetzt, Jahre später, einleuchtete. »Das hier ist keine Fernsehserie. Die ›Leiche‹ ist eine Person.«
Forts Wangen glühten jetzt noch mehr.
»Entschuldigung. Ja, es ist eine Frau. Um die dreißig. Nach der Handtasche wird noch gesucht.«
»Ist sie damit vor den Zug gesprungen?«
Fort antwortete nicht auf die Frage und hielt sich an sein Drehbuch.
»Sehen Sie sich die Bilder an. Die Überwachungskameras haben einen Teil des Vorfalls aufgenommen.«
Stimmenlärm auf dem Bahnsteig war zu hören.
»Wer ist noch da unten?«
»Zwei Jugendliche. Die von der Streife sind bei ihnen.«
»Jugendliche?« Salgado wappnete sich mit Geduld, aber aus seinem Tonfall sprach Unmut. »Hast du nicht am Telefon gesagt, der Selbstmord wäre kurz vor zwei passiert? Ich denke, ihr hattet Zeit genug, ihre Aussagen aufzunehmen und sie nach Hause zu schicken.«
»Das haben wir. Aber sie sind zurückgekommen.«
Bevor Fort Gelegenheit hatte, weitere Erklärungen zu geben, trat jemand vom Sicherheitspersonal auf sie zu, ein Mann mittleren Alters mit Ringen unter den Augen und müder Miene.
»Wollen Sie die Aufnahme hier sehen oder lieber mitnehmen?«
Was für Héctor im Klartext so viel hieß wie: Darf ich meine verdammte Schicht jetzt endlich beenden? Fort wollte schon etwas sagen, aber der Inspektor kam ihm zuvor.
»Hier«, entschied Héctor, ohne seinen Untergebenen anzusehen. »Das mit den Jugendlichen erklärst du mir später.«
Die Kabine, wo die Videos von den Bahnsteigen aufgezeichnet wurden, war klein, es roch streng, nach Schweiß und Eingesperrtsein.
»Bitte sehr«, sagte der Sicherheitsmann nur. »Aber viel dürfen Sie nicht erwarten.«
Die Kamera erfasste den Bahnsteig von dem Ende an, wo die Züge einfuhren, und Salgado, Fort und der Sicherheitsmann beobachteten stumm die Ankunft einer Metro um genau 01:49 Uhr. Héctor erinnerte sich sofort an seinen Traum, und vielleicht wegen des diffusen, grauen Bilds schienen die Menschen, die auf dem Bahnsteig warteten – Körper mit verwischtem Gesicht und abgehackten Bewegungen –, wie urbane Zombies. Gerade als die Türen sich schlossen, kam eine Gruppe Jungs mit Baseballkappen, in Sweatshirts und weiten Jeans auf den Bahnsteig gerannt; sie sahen, dass sie den Zug verpassten, und trommelten vor lauter Wut gegen die Scheiben. Als die Metro anfuhr und sie in der Station zurückließ, machte einer vor der Kamera ein eindeutiges Zeichen mit dem Finger.
»Sie mussten sechs Minuten warten, weil …«, sagte der Sicherheitsmann, und in seiner Stimme schwang endlich so etwas wie Befriedigung.
»Da, Inspektor«, unterbrach ihn Fort.
Tatsächlich, auf der gegenüberliegenden Treppe kam
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