Der Engel mit den Eisaugen
Mignini erfuhr, worüber wir schrieben, ließ er mich zur Vernehmung vorladen, die in Italienisch und ohne Anwalt durchgeführt wurde. Bei dieser Vernehmung beschuldigte er mich der Beihilfe zu diesen Morden und forderte mich auf, ein Geständnis abzulegen. Als ich erklärte, dass ich kein Verbrechen gestehen würde, das ich nicht begangen hätte, beschuldigte er mich des Meineids, der Behinderung der Justiz und anderer Vergehen. Dann bedeutete er mir, dass ich am besten möglichst schnell ausreisen solle, andernfalls müsse ich mit einer Verhaftung rechnen. Nachdem ich Italien mit meiner Familie fluchtartig verlassen hatte, ließ Mignini Mario Spezi verhaften und ins Gefängnis werfen mit der Begründung, er sei in die Morde des Monsters von Florenz verwickelt. Nach internationalen Protesten sah Mignini sich gezwungen, Spezi auf freien Fuß zu setzen und die Beschuldigungen gegen mich fallenzulassen. (Die ganze Geschichte ist in
Die Bestie von Florenz
nachzulesen.) Mignini brachte sein Vorgehen bei den Morden von Florenz eine Anklage wegen Amtsmissbrauchs und anderer Vergehen ein.
All das bewirkte, dass ich jeden Fall, in den Mignini involviert war, mit äußerst skeptischen Augen betrachtete. Ich fragte Spezi, ob er denn etwas über den Kercher-Mord wisse. Spezi erwiderte, er habe sich ursprünglich nicht als Journalist für den Fall interessiert, doch als er erfuhr, dass Mignini die Untersuchung leitete, habe er die Hände vors Gesicht geschlagen und aufgestöhnt: »Mein Gott, was wird er jetzt wieder anrichten? Welchen armen, unschuldigen Menschen wird er jetzt wieder ins Gefängnis bringen?«
Mario und ich nahmen uns nun den Fall professionell vor, als Journalisten. Je weiter unsere Recherchen gediehen, desto weniger konnten wir das Ganze nachvollziehen. Es begann schon damit, dass man »Fall aufgeklärt« verkündete, ehe überhaupt die Spuren vom Tatort ausgewertet worden waren. Eigenartig. Zum anderen erklärten Polizei und Staatsanwaltschaft von Perugia, man brauche gar keine Spuren auszuwerten, um zu wissen, dass Amanda Knox und ihr Freund Raffaele Sollecito schuldig seien. »Wir konnten die Schuld nachweisen«, erläuterte Kommissar Edgardo Giobbi, »indem wir die psychischen und verhaltensmäßigen Reaktionen der Verdächtigen während der Verhöre genau beobachteten. Andere Ermittlungsmethoden erübrigen sich, da diese Methode uns in kürzester Zeit zu den Schuldigen geführt hat.«
Als dann die Ergebnisse der Spurensicherung vorlagen, zeigte sich, dass sie keineswegs auf die in Haft befindlichen Verdächtigen hinwiesen. Es gab nicht eine einzige DNA -Spur von Amanda Knox, ihrem Freund und einer dritten Person, die mit ihnen verhaftet worden war. Stattdessen war der Tatort geradezu gepflastert mit DNA -Material einer vierten Person, eines von der Elfenbeinküste stammenden Herumtreibers, Kleinkriminellen und Drogendealers namens Rudy Guedé. Seine DNA wurde außen am Opfer gefunden, in dessen Vagina und im Portemonnaie, aus dem Geld genommen worden war. Blutige Fingerabdrücke von Guedé fanden sich an den Wänden, Fäkalien von ihm in der Toilette, wo nicht nachgespült worden war. Nach der Tat hatte sich Guedé nach Deutschland abgesetzt. Er wurde nach Italien zurückgebracht, wo er eine völlig unglaubhafte Geschichte erzählte: dass er mit dem Opfer einvernehmlich Sex gehabt habe und dann ins Bad gegangen sei. Während er ein paar Meter entfernt die Toilette benützte, sagte er, und auf seinem iPod Musik hörte, sei jemand anders in die Wohnung eingebrochen und habe das Opfer ermordet. Er habe wegen der Ohrstöpsel nichts gehört. Als er herauskam, habe er den Mörder überrascht und mit ihm gerungen, doch der Mann konnte flüchten. Aus Angst, dass man ihm selbst die Schuld zuschieben könnte, habe er sich aus dem Staub gemacht; währenddessen erstickte das Opfer an seinem eigenen Blut. Später ging er noch in einer Disco tanzen, ehe er nach Deutschland flüchtete.
Für mich war nach Lektüre dieser Aussage klar, dass Guedé der alleinige Täter war, dass Amanda und Raffaele zu Unrecht in Haft saßen. Es war ein banaler Raub, bei dem das Opfer anschließend vergewaltigt und ermordet wurde.
Doch die Polizei hatte Amanda und Raffaele nicht freigelassen. Vielmehr hatte sich Mignini offenbar eine Geschichte aus den Fingern gesogen, dass Amanda Knox und Raffaele Sollecito sich mit Guedé – den sie überhaupt nicht kannten – zusammengetan hätten, um an Halloween unter Drogeneinfluss einen
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