Der Engel mit den Eisaugen
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A m 2 . November 2007 wurde in der schönen alten Stadt Perugia, umgeben von den Hügeln der Toskana, eine junge Engländerin namens Meredith Kercher ermordet in dem Haus aufgefunden, das sie sich mit mehreren anderen Studentinnen teilte. Die halbnackte Leiche lag unter einer Daunendecke auf dem Boden ihres Zimmers. Man hatte Meredith die Kehle durchgeschnitten, es gab Anzeichen für sexuelle Gewalt und Raub. Dies war einer der spektakulärsten Mordfälle, den Perugia seit mehr als dreißig Jahren erlebt hatte, und er beherrschte die Titelseiten der italienischen Zeitungen. Vier Tage später, am 6 . November, verkündeten Polizei und Staatsanwaltschaft triumphierend auf einer Pressekonferenz in Perugia, dass der Fall gelöst sei und man die drei Mörder verhaftet habe; einer habe bereits ein Geständnis abgelegt. »Der Fall ist aufgeklärt«, hieß es. Die Nachricht ging um die Welt.
Einige Tage später wurde gemeldet, dass eine amerikanische Studentin namens Amanda Knox mit zwei anderen Personen in den Mord verwickelt sei, den die Staatsanwaltschaft als eine Art sexuell-satanisches Ritual unter Drogeneinfluss bezeichnete. Am 12 . November erschien in der
New York Times
ein Artikel mit der Überschrift »Grausiger Mord hält italienische Universitätsstadt in Atem«. In dem Artikel hieß es unter anderem:
»Es hat Ms. Knox nicht geholfen, dass sie laut Darstellung des Richters ihre Aussage mehrmals änderte. Zuerst erzählte sie der Polizei, sie sei in der Nacht, als Ms. Kercher starb, vom 1 . auf den 2 . November, mit Mr. Sollecito in dessen Wohnung gewesen … Beim Verhör gab sie an, sie habe sich in der Küche des gemeinsam bewohnten Hauses aufgehalten, Ms. Kerchers Schreie gehört, … habe sich die Ohren zugehalten, das Haus fluchtartig verlassen und erinnere sich sonst an nichts. Vergangenes Wochenende behauptete sie erneut, sie sei an jenem Abend gar nicht in dem bewussten Haus gewesen.«
Als ich das las, dachte ich, wie vermutlich die meisten Amerikaner, dass Amanda Knox schuldig sei. Ich speicherte den Mord als eines dieser grausigen, sinnlosen Verbrechen, wie sie psychisch gestörte, vermutlich unter Drogen stehende Menschen begehen.
Einige Tage später rief mich ein Mann namens Tom Wright an, und seine tiefe, sonore Stimme bebte geradezu vor Empörung. Wright stellte sich mir als Freund der Familie Knox vor; seine Tochter und Amanda seien enge Freundinnen. Er sei felsenfest überzeugt, versicherte er, dass Amanda nicht fähig sei, einen Mord zu begehen. Er habe sich mit der Sache beschäftigt und sofort gespürt, dass da etwas nicht stimmte. Das Geständnis, sagte er, sei nach einem vierzehnstündigen Verhör erfolgt, bei dem die Polizei Amanda physisch und psychisch unter Druck gesetzt habe. Der italienischen Presse werde eine Menge falscher, nachteiliger Informationen zugespielt, was die Öffentlichkeit gegen Amanda einnehme. Genau diese Informationen würden von der amerikanischen Presse aufgegriffen, wodurch sich auch in ihrem Heimatland die öffentliche Meinung gegen sie wende. Die italienischen Anwälte der Familie, berichtete Wright weiter, hätten ihnen verboten, mit Journalisten zu sprechen, und so werde ihre Seite der Geschichte gar nicht bekannt. Es müsse etwas getan werden, um diese Flut an falschen Informationen zu stoppen und einer unschuldigen jungen Frau, die zu Unrecht des Mordes beschuldigt wurde, zu helfen.
Ich fragte Wright, warum er gerade mit mir Kontakt aufgenommen habe.
Es herrschte kurzes Schweigen in der Leitung, und dann sagte er: »Weil Oberstaatsanwalt Giuliano Mignini mit diesem Fall befasst ist. Er treibt mit Amanda das gleiche Spiel wie mit Ihnen und Mario Spezi.«
Bis zu diesem Moment hatte ich gar nicht gewusst, dass Mignini mit der Sache befasst war. Ich nahm Wright keineswegs sofort alles ab, was er vorbrachte. Natürlich würden Amandas Familie und ihre Freunde sie verteidigen, ganz gleich, wie die Beweislage aussah. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich mir die Sache näher anschauen sollte, um mir eine eigene Meinung zu bilden.
Als Erstes rief ich Mario Spezi an. Spezi und ich haben zusammen das Buch
Die Bestie von Florenz
geschrieben, in dem es um einen Serienmörder geht, der zwischen 1974 und 1985 in den Hügeln der Toskana junge Liebespaare umbrachte. Diese Mordserie wurde bis heute nicht aufgeklärt. Unser Buch hatte bei ebenjenem Staatsanwalt Giuliano Mignini, der die Ermittlungen damals teilweise leitete, heftigen Unmut erregt. Als
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