Der Engel mit den Eisaugen
UNTERSCHEIDET , AUF DIE WIR UNS BEZIEHEN , WENN WIR VON DEN VERBRECHEN VON FLORENZ SPRECHEN . DOCH LEIDER BEFINDEN WIR UNS IN DER GLEICHEN GESCHICHTE , UND SIE IST SEHR GEFÄHRLICH . DER IN DIESEM FALL ERMITTELNDE LEITENDE STAATSANWALT SOLL HERAUSGEFORDERT WERDEN , UND DAS ZIEL DES MÖRDERS IST DIE OPFERGABE WEIBLICHEN BLUTES .«
Das Datum, so Gabriella Carlizzi weiter, sei nicht zufällig gewählt worden. Halloween – die Nacht der Hexen, der Untoten, die Nacht abgründiger, satanischer Rituale und Menschenopfer.
Für sie war und blieb Mignini Zielscheibe des obskuren Monsters. Und einer der Hintermänner, behauptete sie, sei ausgerechnet ich, der im Vorjahr von ebenjenem Staatsanwalt festgenommen und nach beinahe einem Monat vom Obersten Kassationsgerichtshof entlastet worden war. Ein weiterer Verschworener sei mein Freund Douglas Preston, ein Mittelsmann finsterer amerikanischer Mächte. Doug wurde als mein Komplize beschuldigt und schließlich zurück nach Amerika geschickt, um eine Haftstrafe zu vermeiden. Ich hingegen wurde – obgleich ich mich inzwischen wieder auf freiem Fuß befand – nicht mehr nur der Irreführung bezichtigt, sondern des Mordes und einer langen Reihe schwerwiegender Verbrechen. Von der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung war die Rede und sogar von Leichenschändung.
Während Gabriella Carlizzi keine Hemmungen hatte, ihrer überirdischen Logik zu folgen, war es Giuliano Mignini natürlich nicht möglich, eine Ermittlung zu leiten und dabei offen zuzugeben, dass er an ihre Behauptungen glaubte.
Also bewahrte er Stillschweigen, und es existieren keine Dokumente, denen sich entnehmen lässt, wie vielen himmlischen Offenbarungen er tatsächlich gelauscht haben könnte. Doch schon wenig später äußerte er sich zu den Ermittlungen im Fall Kercher und dessen prompter Aufklärung, die zur Festnahme von Amanda Knox und ihrem italienischen Freund geführt hatte. Und diese Stellungnahme erwies sich als exaktes Echo der Prophezeiungen der Carlizzi: Halloween, ein satanischer Ritus, eine Orgie mit viel Sex und Blut.
Dieselben Argumente – uralte, satanische Sekten, die aus einflussreichen Mitgliedern bestanden, obszöne rituelle Handlungen mit Leichenteilen junger Frauen, Satanskult –, all dies hatte der Staatsanwalt bereits bei Untersuchungen zum Monster von Florenz verwendet, die er zur gleichen Zeit geführt hatte und die sich ebenfalls auf Aussagen der Carlizzi stützten.
Ohne diese Vorgeschichte ist es nicht möglich, die Ereignisse der kommenden vier Jahre in Perugia vollständig zu begreifen. Denn genau diese Vorgeschichte ist es, die der Irrationalität, der Magie, dem Satanismus und einer neuen Variante archaischer Hexenjagden bei Gericht Tür und Tor geöffnet hat.
Im Fall Kercher gibt es keine Zeugenaussagen, die Gabriella Carlizzi gegenüber Giuliano Mignini gemacht hätte. Doch da er sie zuvor oft als Zeugin verhört und dies während meiner eigenen Gerichtsverhandlung auch laut kundgetan hatte, weiß ich mit Sicherheit, wie sehr er die römische Hellseherin schätzte, die laut seinen Worten »von vielen verunglimpft wird, aber nicht von mir!«.
Als der Staatsanwalt von den Verbrechen des Monsters von Florenz sprach, zu denen er Untersuchungen anstellte, und dabei auf Motive verwies, die mit Satanismus, dunklen Riten oder mysteriösen, mächtigen Geheimsekten zu tun haben sollten, stellte niemand seine Glaubwürdigkeit in Frage. Man räumte ihm eine gewisse Autorität ein – und das, obwohl seine Theorien die Ergebnisse überaus angesehener, kriminalistischer Methoden negierten, die sich auf die Datenbank des amerikanischen FBI und des deutschen Bundeskriminalamts stützten.
Auch schien er zu ignorieren, dass noch nirgendwo auf der Welt eine satanische Sekte entdeckt worden war, in der sich sogenannte »normale« Menschen dem Ritualmord verschrieben hätten, um ihre Opfer Satan darzubringen. Sofern sich der Zusammenschluss tatsächlich als Sekte bezeichnen ließ, hatte er immer aus extrem unangepassten, durchgeknallten Menschen bestanden, wie zum Beispiel der »Familie« von Charles Manson, die Sharon Tate, die Frau des Regisseurs Roman Polański, massakriert hatte.
Innerhalb der Staatsanwaltschaft oder von Seiten des Gerichts wurde dem Chefankläger keinerlei Hindernis in den Weg gelegt, niemand bremste ihn. Ein wenig lag das sicher auch daran, dass viele Justizbeamte aus Perugia von denselben Vorstellungen durchdrungen waren. Vor allem aber fühlten
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