Der Engelmacher
Und gleichzeitig fielen dicke Regentropfen vom Himmel, viel eher als vorhergesagt.
Pastor Kaisergruber hatte gewusst, dass Jesus und die zwei Mörder dieses Jahr nicht an ihren Kreuzen hängen würden. Die Sandsteinfiguren waren porös geworden und drohten von den Kreuzen abzufallen. Deshalb hatten die Klarissen sie abnehmen lassen und einem Bildhauer in La Chapelle den Auftrag für drei neue erteilt, diesmal in Bronze. Die anderen vier Figuren aus Sandstein waren noch vorhanden: Maria, Maria Magdalena, Johannes und der römische Soldat. Er hatte indes nicht gewusst, dass eine der Figuren bereits fertig und wieder aufgehängt worden war. Das sah der die Kreuzweg-Prozession anführende Prediger erst jetzt, als er auf den großen Platz kam, der sich vor der Grotte mit der zwölften Station erstreckte. Es war eine bemerkenswerte Skulptur. Ausdrucksstark. Aber sie war nicht aus Bronze, sonst wäre sie grün oder braun gewesen. Sie war wohl doch wieder aus Sandstein. Die bleiche Farbe hob sich deutlich von den schwarzen Wolken ab, die sich über dem Hügel zusammengezogen hatten. Es war ein imposanter Anblick.
Langsam schritt Pastor Kaisergruber weiter vor. Lebensecht, der Bildhauer hatte wirklich sein Bestes getan, um Jesus lebensecht erscheinen zu lassen. Besonders die Wunde an der Seite, wo sich der Speer eines römischen Soldaten in Jesu Fleisch gebohrt hatte. Die Wunde schien wahrhaftig offen zu sein. Offenbar hatte der Bildhauer an der Stelle sogar rote Farbe angebracht, um den Effekt zu verstärken. Dasselbe Rot war auch bei den Wunden zum Einsatz gekommen, die die Nägel in den Händen und Füßen hinterlassen hatten. Und fast denselben Farbton, nur etwas heller, hatte der Künstler für Jesu Bart und Haupthaar verwendet. Das wunderte den Pastor. Künstlerische Freiheit, dachte er erst noch, aber dann dämmerte ihm langsam etwas. Zunächst konnte er es nicht glauben, obwohl er es mit eigenen Augen sah, doch schon bald erhob sich Gemurmel in seinem Rücken, und ein paar Mal fiel derselbe Name. Und gerade als hinter ihm ein schriller Schrei erklang, hob der Gekreuzigte den Kopf, öffnete kurz die Augen und sah ihn an oder sah durch ihn hindurch. Und dann erklang eine Stimme, die man aus tausenden herausgehört hätte: »Es ist vollbracht!«
Als würde Pastor Kaisergruber selbst von einem Speer durchbohrt, nicht einmal, sondern hunderte Male, so fühlte es sich an, und das Schlimmste sollte erst noch kommen. Der Kopf des Gekreuzigten senkte sich, tief, immer tiefer, und mit dem Kopf sank der ganze Körper nach vorn, bis die Nägel durch das Gewicht die Löcher in den Händen einrissen, ganz langsam, Sehne für Sehne, Knochen für Knochen. Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Der Körper fiel mit einem Mal vom Kreuz ab. Dabei rissen auch die Füße von den Nägeln, und so gab es nichts mehr, was den Körper noch gehalten hätte. Er taumelte den kleinen Hügel hinab und plumpste schließlich zwischen Gitter und Altargrotte auf den Boden.
Pastor Kaisergruber wurde langsam schwarz vor Augen, so sehr schwindelte ihn. Er warf einen Blick zurück und stellte fest, dass ein paar Frauen aus der straffen Reihe der Prozession bereits ohnmächtig am Boden lagen. Andere fielen just in diesem Moment um, darunter auch Vera Weber. Außerdem brach nun ein Unwetter los. Vielleicht fand er das sogar am schlimmsten.
Die Wolfheimer waren überzeugt, dass es das Werk dieser Frau war. Dass sie all dies getan hatte. Sie hatte Doktor Hoppe betäubt und ans Kreuz genagelt. Dafür brauchte man natürlich Kraft, aber die Frau war stämmig gebaut. Daran erinnerten sich alle, die sie zu Gesicht bekommen hatten. Aber erst hatte sie die Kinder ermordet, oder vielleicht hinterher, das war auch möglich. Jedenfalls war sie, nachdem sie den Doktor ans Kreuz geschlagen hatte, zu seinem Haus zurückgekehrt, hatte dort einen Brand gelegt und sich selbst umgebracht. Also erst den Doktor betäubt, dann die Kinder betäubt oder auch schon umgebracht, dann den Doktor ans Kreuz gehängt, dann zurückgekehrt, dann den Brand gelegt und sich selbst getötet. In dieser Reihenfolge. So musste es vor sich gegangen sein. Das erzählten die Einwohner der Polizei. Die Frau war für alles verantwortlich.
Aber nach und nach wurde die Theorie entkräftet. Die forensischen Fachleute fanden immer mehr heraus. Zunächst, dass die Frau zum Zeitpunkt des Brandes angeblich bereits einige Tage tot war. Dann, dass auch die Kinder bereits vorher tot waren. Aber das
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