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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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verdienstvollen Einwohner auswählte, der bei der Kreuzwegprozession auf den Kalvarienberg die Gemeindefahne tragen durfte. Am Sonntag, den 21. Mai 1989, wurde diese Ehre Lothar Weber zuteil. Nach dem Verlust seines Sohnes wollte man ihm ein bisschen Mut machen. Erst hatte er sich geweigert, da er im Grunde nichts Verdienstvolles getan hatte, aber seine Frau hatte gesagt: »Lothar, jetzt mach das doch ruhig. Gunther wäre stolz auf dich.«
    Also tat er es, Gunther zuliebe, denn eigentlich spielte er sich nicht gern in den Vordergrund.
    Um elf Uhr hatte es zunächst eine Eucharistiefeier gegeben, bei der Pastor Kaisergruber die Heilige Rita gebeten hatte, sie möge das Dorf und seine Bewohner im kommenden Jahr vor jener Art von Unheil behüten, das in den letzten Monaten einige aus ihren Reihen so hart getroffen habe. Der Priester hatte keine Namen genannt, aber Lothar hatte gewusst, dass auch er und seine Familie gemeint gewesen waren. Er hatte Veras Hand ergriffen und während der ganzen Messe nicht wieder losgelassen.
    Nach der Eucharistiefeier war dann eine Karawane von Autos nach La Chapelle gefahren. Fast alle zweihundert Einwohner Wolfheims waren dabei, und während sie sich am Eingang des Kalvarienbergs versammelten, wurde Lothar immer wieder ermutigend auf die Schulter geklopft, und man wünschte ihm viel Kraft. Das tat ihm gut.
    Um Punkt zwölf Uhr waren alle aufgestellt, und der Zug konnte beginnen. Pastor Kaisergruber stand mit einem silbernen Kreuz auf einem Stab an der Spitze, und direkt hinter ihm trug Lothar Weber die Gemeindefahne, die mit dem Namen des Dorfes und dem Bildnis der Heiligen Rita bestickt war. Hinter ihm kamen Jacob Weinstein und Florent Keuning, alle beide eine Opferkerze in der Hand. Die anderen Dorfbewohner standen in zwei langen Reihen, erst die Kinder, dann die Männer und Frauen, die Alten vorneweg. Josef Zimmermann und einige andere Greise wurden im Rollstuhl geschoben. Beschlossen wurde die Prozession von dem Zwei-Mann-Orchester: Jacques Meekers, Tuba, und René Moresnet, Pauke.
    Als Pastor Kaisergruber den Stab mit dem Kreuz in die Höhe hob und damit das Zeichen gab, den Kreuzweg anzutreten, lief Lothar ein Schauder über den Rücken. Am Ende des Zugs setzten Jacques Meekers und René Moresnet mit »Du hast uns, Herr, gerufen« ein, während die anderen Gemeindemitglieder das Vaterunser zu beten begannen. Ein Stimmengemurmel, das den Träger der Fahnenstange an das Summen von Bienen erinnerte.
    Die Hitze war drückend an jenem Nachmittag, die Sonne hatte sich hinter große Quellwolken zurückgezogen. Für den Abend war ein Unwetter vorhergesagt.
    Als die Prozession bei der ersten Station angekommen war, »Jesus wird zum Tode verurteilt«, liefen die ersten Schweißtropfen über Lothars Gesicht. Die Fahne war schwerer, als er gedacht hatte, und sein feiner Anzug war für dieses Wetter viel zu warm. Aber er hatte keinen anderen. Es war derselbe Anzug, mit dem er Gunther zu Grabe getragen hatte.
    »Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und benedeien dich«, sagte Pastor Kaisergruber. Die Musik war verstummt.
    »Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst«, antworteten die Dorfbewohner im Chor.
    »Mein Jesus, ich weiß es, nicht nur Pilatus hat dich zum Tode verurteilt«, las der Priester dann aus einem Gebetbuch vor, »auch meine Sünden sind schuld an deinem Tod …«
    Lothars Gedanken schweiften ab. Er dachte an seinen Sohn Gunther. Aber auch an den anderen Sohn, der bald zur Welt kommen und Gunther ähnlich sein würde. Obwohl er daran insgesamt noch zweifelte. Wie er es erst nicht hatte fassen können, dass er kein Vater mehr war, so konnte er jetzt nicht glauben, dass er noch einmal Vater werden sollte. Aber seine Frau schien sogar schon etwas zu spüren. Er hatte gesehen, wie sie sich beim Ankleiden mit der Hand über den Bauch gestrichen hatte, genauso wie früher, als sie mit Gunther schwanger gewesen war. Doktor Hoppe hatte zwar gesagt, die Embryos müssten sich erst noch in der Gebärmutter einnisten, bevor von einer Schwangerschaft die Rede sein könne, aber Lothar war beinahe sicher, dass das bereits geschehen war. Vielleicht würden sogar Zwillinge oder Drillinge dabei herauskommen. Aber auch diese Vorstellung weckte keine väterlichen Gefühle bei ihm. Das würde noch kommen, vermutete er. Hoffte er.
    Die dumpfen Paukenschläge rissen den Fahnenträger aus seinen Gedanken. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die Dorfbewohner hatten wieder mit

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