Der Erl�ser
gerichtet. Um ihn nicht direkt ansehen zu müssen, dachte Jon. Sie hatte das aufgedunsene, schwammige Gesicht einer langjährigen Alkoholikerin, war übergewichtig und trug ein schmutziges, weißes T-Shirt unter dem Morgenmantel. Aus der Wohnung drang ein beißender Gestank.
Jon blieb auf dem Treppenabsatz stehen und stellte die Taschen ab. »Ist Ihr Mann zu Hause?«
»Ja, er ist da«, sagte sie in weichem Französisch.
Sie war hübsch. Hohe Wangenknochen und große, mandelförmige Augen. Schmale, blutleere Lippen. Und gut gekleidet. Jedenfalls galt das für den Teil von ihr, den er durch den Türspalt sehen konnte.
Automatisch zupfte er sein rotes Halstuch zurecht.
Das Sicherheitsschloss zwischen ihnen war aus solidem Messing und an der schweren Eichentür befestigt, die kein Namensschild trug. Als er vor dem Haus in der Avenue Carnot darauf gewartet hatte, dass ihm die Concierge öffnete, hatte er registriert, dass alles neu und teuer wirkte: die Türbeschläge, die Klingelanlage, die Zylinder des Schlosses. Und die Tatsache, dass die blassgelbe Fassade und die weißen Jalousien von einer hässlichen schwarzen Schmutzschicht überzogen waren, unterstrich nur die Etabliertheit und Solidität dieser Pariser Wohngegend. Im Flur hingen echte Ölgemälde.
»Worum geht es? «
Ihr Blick und ihr Tonfall waren weder unfreundlich noch freundlich, verrieten aber eine Spur Skepsis, die wohl mit seinem schlechtem Französisch zusammenhängen mochte.
»Eine Nachricht, Madame .«
Sie zögerte, reagierte dann aber wie erwartet:
»Wenn das so ist. Würden Sie bitte hier warten, ich werde ihn holen.«
Sie machte die Tür zu, die mit einem gut geölten, weichen Klicken ins Schloss fiel. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Er sollte besser Französisch lernen.
Mutter hatte abends immer Englisch mit ihm gepaukt, aber an seinem Französisch hatte sie nie etwas verbessern können. Er starrte auf die Tür. Französische Eröffnung. Französischer Besuch. Nett.
Er dachte an Giorgi. Giorgi mit dem weißen Lächeln war ein Jahr älter als er, er musste jetzt also 24 Jahre alt sein. Ob er noch immer so hübsch war? Blond und klein und zierlich wie ein Mädchen? Er hatte Giorgi geliebt, vorurteilsfrei und bedingungslos, wie nur Kinder einander lieben können.
Drinnen hörte er Schritte. Ein Mann kam. Jemand hantierte amSchloss herum. Ein blauer Strich zwischen Arbeit und Freiheit, von hier zu Seife und Urin. Bald würde der Schnee kommen. Er machte sich bereit.
*
Das Gesicht des Mannes erschien im Türspalt.
»Verdammt, was wollen Sie?«
Jon hob die Plastiktüte hoch und versuchte zu lächeln: »Frisches Brot. Riecht gut, nicht wahr?«
Fredriksen legte eine große braune Hand auf die Schulter der Frau und schob sie zur Seite. »Ich rieche nur das Blut einer frommen Seele « Die Worte kamen wohlartikuliert und nüchtern, aber die verwässerte Iris in dem bärtigen Gesicht sprach eine andere Sprache. Die Augen versuchten, die Tüten zu fokussieren. Er sah aus wie ein großer, kräftiger Mann, der in sich zusammengesunken war. Als wären Skelett und Schädel unter der Haut geschrumpft, so dass diese nun schwer und drei Nummern zu groß von dem bösartigen Gesicht herabhing. Fredriksen fuhr sich mit einem schmutzigen Finger über die frischen Kratzer auf dem Nasenrücken.
»Wollen Sie uns jetzt wieder eine Predigt halten?«, fragte er. »Nein, ich wollte eigentlich nur «
»Erzählen Sie keinen Mist, Soldat. Ein bisschen wollen Sie dafür doch wohl haben, oder? Wie wäre es denn zum Beispiel mit meiner Seele?«
Jon schüttelte sich in seiner Uniform. »Über Seelen kann ich nicht verfügen, Fredriksen. Ich kann Ihnen nur ein bisschen zu essen « »Komm schon, eine kleine Predigt geht doch wohl.«
»Wie gesagt, ich «
»Los!«
Jon blieb stehen und sah Fredriksen an.
»Jetzt machen Sie schon Ihr dummes Maul auf und predigen Sie! «, brüllte Fredriksen. »Predigen Sie da oben auf Ihrem hochnäsigen Thron, damit wir mit gutem Gewissen essen können! Los jetzt, bringen Sie es hinter sich, wie lautet die heutige Botschaft des Herrn?«
Jon machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Schluckte. Versuchtees erneut, und dieses Mal gelang es ihm, Schwingung in seine Stimmbänder zu bekommen. »Die Botschaft lautet, dass Gott seinen Sohn für uns gegeben hat … zur Erlösung unserer Sünden.«
»Sie lügen!«
*
»Nein, das tue ich leider nicht«, sagte Harry und blickte in das entsetzte Gesicht des Mannes,
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