Der Erl�ser
Eisnadeln und gefrorenen Müll über den Bürgersteig der stark befahrenen Straße fegte. Wer Jon Karlsen kannte, wusste aber, dass er seinen Rücken krümmte, um seine Größe zu verbergen. Und um denen näher zu kommen, die unter ihm standen. So wie er sich jetzt hinabbeugte, um die Zwanzigkronenmünze in den braunen Pappbecher zu werfen, den eine schmutzige, zitternde Hand neben der Tür in die Luft reckte.
»Wie geht’s?«, fragte Jon das menschliche Bündel, das auf dem verschneiten Bürgersteig mit verschränkten Beinen auf einem Stück Pappe hockte.
»Ich warte auf die Methadonbehandlung«, sagte der Arme, und es klang tonlos und brüchig wie ein schlecht eingeübter Psalm. Er starrte auf Jons Knie unter der schwarzen Uniformhose.
»Du solltest mal in unser Café in der Urtegata kommen«, sagte Jon. »Dich ein bisschen aufwärmen, etwas essen «
Der Rest ging im brüllenden Verkehr unter, als die Ampel hinter ihnen auf Grün schaltete.
»Hab keine Zeit«, sagte das Bündel am Boden. »Du hast nicht zufällig einen Fuffziger?«
Jon war immer wieder verblüfft über die unerschütterliche Zielstrebigkeit der Junkies. Er seufzte und stopfte ihm einen Hunderter in den Pappbecher.
»Sieh wenigstens zu, dass du im Fretex ein paar warme Kleider bekommst. Sollte es da nichts geben, geh ins Fyrlyset, da haben wir neue Winterjacken gekriegt. In deiner dünnen Jeansjacke wirst du noch erfrieren.«
Er sagte das mit der Resignation eines Mannes, der bereits wusste, dass seine Gabe doch nur für Drogen draufgehen würde, aber was sollte man tun? Es war immer der gleiche Refrain, mal wieder eines dieser moralischen Dilemmas, die sein Alltag mit sich brachte.
Jon drückte noch einmal auf den Klingelknopf. Er sah sein Spiegelbild in dem schmutzigen Schaufenster neben der Haustür. Thea meinte, er sei groß. Er war alles andere als groß. Er war klein. Ein einfacher Soldat. Aber wenn das hier erledigt war, würde der einfache Soldat befreit über die Møllergata und den Akerselva-Fluss laufen, hinter dem mit dem Stadtteil Grünerlokka der Osten der Stadt begann, und weiter durch den Sofienbergpark bis zu dem Haus in der Gøteborggata 4, das die Armee an ihre Mitarbeiter vermietete. Er würde die Tür von Aufgang B aufschließen und vielleicht einen der anderen Mieter grüßen, die hoffentlich annahmen, er sei auf dem Weg zu seiner Wohnung in der dritten Etage. Stattdessen würde er aber mit dem Aufzug bis in die vierte fahren, über den Dachboden zum Aufgang A hinübergehen, lauschen, ob die Luft rein war, und dann zu Theas Tür huschen und das vereinbarte Klopfzeichen geben. Und sie würde die Tür und ihre Arme öffnen, in denen er versinken und wieder auftauen konnte.
Es vibrierte.
Zuerst dachte er, es sei der Boden, die Stadt, das Fundament. Er stellte die Tasche ab und griff in seine Hose. Das Handy brummte in seiner Hand. Im Display wurde Ragnhilds Nummer angezeigt. Bereits zum dritten Mal an diesem Tag. Er wusste, dass er es nicht länger aufschieben konnte, dass er ihr von seiner bevorstehenden Verlobung mit Thea erzählen musste. Wenn er denn endlich die richtigen Worte gefunden hatte. Er steckte das Telefon wieder in dieHosentasche und vermied es, sein Spiegelbild anzusehen. Doch dann fasste er einen Entschluss. Er wollte nicht mehr feig sein. Er wollte mutig werden. Ein großer Soldat sein. Für Thea in der Gøteborggata. Für Vater in Thailand. Für Gott im Himmel.
»Ja?«, kam es brummend aus dem Lautsprecher über den Klingelknöpfen.
»Oh, hallo, hier ist Jon.«
»Häh?«
»Jon, von der Heilsarmee.«
Jon wartete.
»Was wollen Sie?«, brummte es.
»Ich habe Lebensmittel dabei. Sie brauchen vielleicht « »Haben Sie auch Zigaretten?«
Jon schluckte und stampfte mit den Füßen auf dem Boden auf. »Nein, ich hatte dieses Mal nur Geld für Essen.«
»Scheiße.«
Es wurde still.
»Hallo?«, rief Jon.
»Ja doch. Ich denke nach.«
»Wenn Sie wollen, kann ich auch später wiederkommen.«
Der Türöffner summte und Jon beeilte sich, die Haustür aufzudrücken.
Überall im Treppenhaus lagen leere Flaschen und Zeitungspapier herum, und auf dem Boden glänzten gelbe Pfützen gefrorenen Urins. Aber durch die Kälte blieb Jon wenigstens der durchdringende süßsaure Gestank erspart, der bei wärmerem Wetter im Hausflur hing.
Er versuchte unbeschwert und leicht zu gehen, aber trotzdem dröhnten seine Schritte auf der Treppe. Die Frau, die in der Tür auf ihn wartete, hatte ihren Blick auf die Taschen
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