Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
vergeudet hat und die er sicher noch vergeuden wird, bis er wieder so zusammengeflickt worden ist, dass er gehen kann. An die »Abreibung«, die seine Kollegen dem Täter verpasst haben. An Kripochef Cuddel Breuer, der sicherlich wissen will, was bei dieser Verhaftung alles schiefgelaufen ist.
Alles läuft schief, sagt sich der Oberinspektor, einfach alles. Und ich muss erst mit perforierter Lunge im Krankenhaus liegen, bis mir das klar wird.
Stave zählt jeden Tag, den er im Zimmer verbringt. Graues Licht, das durch das Fenster sickert. Der Geruch nach Lysol, der bis in die Poren der Haut dringt. Die gesummten Melodien hinter dem Paravent. Nie wechselt er ein Wort mit dem Jungen, nie bekommt dieser Besuch, doch seine Melodien klingen, so kommt es ihm vor, nach und nach fröhlicher, kräftiger. Er selbst zwingt sich schon am ersten Tag aus dem Bett. Welcher Triumph, allein bis zur Toilette auf dem Krankenhausflur zu wanken, mit schwindelndem Kopf und brennender Lunge zwar, aber immer noch besser, als sich auf der glänzenden Bettpfanne zu erleichtern und danach zu warten, bis eine Schwester sie fortzieht.
Karl kommt nach vier Tagen wieder vorbei. Sie haben sich nicht viel zu sagen. Am fünften Tag schaut Lieutenant MacDonald herein.
»Ich bringe Ihnen zwei Medikamente«, verkündet der junge Engländer, mit dem Stave schon zwei Fälle gelöst hat, und deutet auf eine braune Papiertüte in seiner Hand. Schwungvoll zieht er eine gewaltige Tafel Schokolade hervor. »Hershey’s. Echte amerikanische Kalorien. Ein Kamerad der US Army hat sie mir spendiert, aber sie sollten besser auf Ihren Rippen landen als auf meinen.« Dann blickt er kurz über den Paravent, senkt verschwörerisch die Stimme und holt eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus der Tüte. »Whiskey, auch vom amerikanischen Offizier. ›Old Tennessee‹, von Eingeweihten liebevoll ›Old Tennisshoes‹ genannt. Ist kein schottischer Single Malt, aber er wird Ihren Puls beschleunigen.«
Stave lächelt matt. »Ein paar Schluck davon und der Arzt wird bei der nächsten Visite seine Diagnose überdenken müssen.«
»Eine Wunderheilung.«
»Wie geht es Erna und dem Kind?« Staves ehemalige Sekretärin hat ein Verhältnis mit dem jungen Lieutenant begonnen, mit ein paar gravierenden Folgen: einer drallen, gesunden Tochter namens Iris, die im vergangenen Sommer geboren wurde. Einem hässlichen Scheidungsprozess, in dem sie das Sorgerecht für ihren achtjährigen Sohn an ihren bisherigen Gatten verloren hat, einen verkrüppelten, verbitterten Wehrmachtsveteranen. Einer Kündigung bei der Kriminalpolizei »in gegenseitigem besten Einvernehmen«, weil sie nach diesem Skandal die Blicke der Kollegen nicht mehr ertrug. Und eine Trauung vor einem britischen Militärkaplan, die sie in »Mrs MacDonald« verwandelt hat.
»Die Kleine zahnt«, antwortet der Offizier und lacht. »Ich sehne mich nach dem Krieg zurück, da waren die Nächte ruhiger.«
»Die Zähne werden schneller kommen als der Frieden.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr. Dann haben Erna und ich eine Sorge weniger.«
Stave denkt an Karl und an das alte Sprichwort, dass die Sorgen mit den Kindern wachsen, aber er verkneift sich diese Bemerkung.
»Sie müssen bald hier raus«, fährt MacDonald fort, nun wieder ernst. »Wir wollen doch ordentlich Abschied feiern.«
Der Oberinspektor hofft, dass man ihm den Schreck über diese Worte nicht ansieht. »Sie werden abkommandiert?«
»Sieht so aus, als wäre ich diesen Sommer dran. Gerüchte wehen durch den Offiziersclub, dass ich mit einer Versetzung innerhalb Europas rechnen kann.«
»Erna und Iris kommen mit?«
»Selbstverständlich.«
»Und Ernas Sohn?«
»Ich hoffe, es wird ihr nicht das Herz brechen, ihn in Hamburg zurückzulassen.«
»Werden Sie noch einmal einen Versuch starten, sich das Sorgerecht zu erkämpfen?«
»Der Richter war in dieser Frage sehr eindeutig. Meine Vorgesetzten sind es auch. Ein kluger Soldat erkennt, wann er die Schlacht verloren hat.«
Erna MacDonald, ehemals Berg, wird einen sehr hohen Preis für ihr neues Leben zahlen, sagt sich Stave. Aber sie ist ja nicht die erste Person in Hamburg, die einen hohen Preis dafür bezahlt, nach 1945 noch einmal von vorne anfangen zu können.
An einem Tag kommt überraschender Besuch: Hauptpolizist Heinrich Ruge, ein junger Schupo, der ihn schon bei manchen Einsätzen begleitet hat. Stave hätte ihn kaum erkannt, denn er sieht den Kollegen das erste Mal in Zivil – in
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