Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
Oberinspektor den klammen, dünnen Mantel ab. Er lässt sich Zeit, sieht ihn ja niemand zu so früher Stunde. Er hinkt die in wilden Mustern gefliesten Stufen hoch, die alte Wunde im Fußgelenk aus der Zeit der Bombennächte. Die neue spürt er auch, aber weniger: eine Narbe auf der Brust, ein wenig rot noch, länger als ein Zeigefinger, doch gut verheilt schon, wie ihm die Ärzte versichert haben. Gelegentlich noch ein Schmerz, eher ein Ziehen, wenn er sich zu rasch bewegt. Und die Stiche beim Atmen, vor allem dann, wenn er sich anstrengt. Das wird auch noch vorbeigehen. In seiner Straßenkleidung sieht man ihm schon nichts mehr an, höchstens, dass er noch etwas hagerer ist als zuvor.
Der Flur im sechsten Stock ist verlassen wie der Führerbunker im April 45. Sein Vorzimmer, das Reich von Erna Berg. Erna MacDonald. Keine neue Sekretärin. Wozu auch? Zuerst, nach der Geburt von Ernas Tochter, war gerade keine qualifizierte Bewerberin da gewesen. Und danach hatte man ja niemanden einstellen müssen – nicht für einen Oberinspektor, der im Universitätskrankenhaus lag. Die schwere, schwarze Schreibmaschine, die auf dem Tisch stand, fehlt. Hat sich wohl ein Kollege organisiert, denkt Stave. Ist ja jetzt auch gleichgültig.
Sein Büro. Eine dünne Staubschicht auf dem Schreibtisch, keine neuen Akten, keine Anzeigen, keine Fotos aus dem Labor, kein Obduktionsbericht von Doktor Czrisini. Er zieht die Schublade eines Metallschranks auf: in grünen Hängeregistraturen die Akten der gelösten Fälle, die der ungelösten muss jemand mitgenommen und einem anderen Beamten hingelegt haben. Eine Schublade voller dünner Hängeordner aus Pappe – die Leistung eines Berufslebens. Sieht nicht übermäßig imposant aus, denkt der Kripo-Mann. Aber was zählt ist das, was unsichtbar ist: der verhaftete Mörder. Die Sühne vor Gericht. Der Trost für die Angehörigen der Opfer, ein schwacher Trost zwar, aber immerhin. Und vor allem: die Befriedigung, ja das Glück, wieder ein Rätsel gelöst zu haben.
»Es müssen ja nicht Mordfälle sein«, murmelt Stave und schiebt die Lade wieder zu, die mit einem metallischen Schlag in ihren Rahmen knallt.
Systematisch räumt er seinen Schreibtisch aus, wirft Zettel und bis zur letzten Seite vollgekritzelte Notizblöcke weg. Am Ende legt er einige Bleistifte und Blöcke auf die Platte, seine Ernennungsurkunde der Kriminalpolizei, auch ein Relikt der untergegangenen Weimarer Republik, die Karteikarten mit den Aberhunderten Adressen von Tätern, Opfern, Kontaktpersonen, Informanten und Verdächtigen, die er in Jahren zusammengetragen hat, einen Vorkriegsstadtplan von Hamburg und einen neuen Falkplan, in dem die zerbombten Viertel rot schraffiert sind und blaue Linien die Grenzen der britischen Sperrzone an der Alster markieren. Dazu eine Lupe, ein Federmesser. Mit dem Nippes und den Souvenirs, die manche Kollegen angesammelt haben, hat er noch nie etwas anfangen können. Und Fotos von Karl oder seiner verstorbenen Frau Margarethe wollte er nie im Büro haben; und erst recht kein Bild von Anna. Von ihr, fällt ihm erst jetzt auf, hat er nicht einmal ein Foto zu Hause.
Er stopft seine Habseligkeiten in eine lederne Aktentasche, deren Schloss nicht mehr schließt. Er hat sie auf dem Schwarzmarkt erstanden – wenn das die Kollegen wüssten. Inzwischen hört er Stimmen vom Flur, Schritte, Türenschlagen. Stave wird sich nun zum Dienstantritt melden. Der Chef wird nicht erfreut sein zu hören, was er ihm zu erzählen hat.
Cuddel Breuer wuchtet seinen massigen, muskulösen Körper aus dem Sitz, als Stave eintritt, kommt ihm entgegen, schüttelt ihm die Hand, ehrliche Freude im Gesicht. Macht mir die Sache nicht einfacher, denkt der Oberinspektor.
»Ich möchte gerne die Abteilung wechseln«, sagt er geradeheraus.
»Hat der Kerl vom Baumwall Sie auch am Kopf erwischt?«, fragt sein Chef und lässt sich in seinen Stuhl fallen. Noch immer lächelt er, doch irgendwie ist in seinen Zügen ein Licht erloschen. »Kommen Sie erst einmal hier an. Leben Sie sich ein. Sie müssen nicht sofort wieder einen Fall bearbeiten. Nicht sofort wieder hinaus.«
»Die Mordkommission ist nichts mehr für mich.«
»So eine Schusswunde kann einen ganz schon aus der Bahn werfen. Ich meine, nicht nur körperlich. Durchdenken Sie die Sache. Nehmen Sie sich Zeit.«
»Ich hatte im Krankenhaus Zeit genug zum Nachdenken. Es ist nicht so, dass ich plötzlich Angst hätte, mir könnte so etwas noch einmal passieren.«
»Warum
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