Der fremde Tote
untergehakt, während er munter über sein Kulturhausprojekt plauderte. So erreichten wir schliesslich den Friedhof, wo Mathilde, die ehemalige Schneiderin, uns bereits erwartete.
„Hallo Kinder!“, begrüsste sie Korbi und mich, „schön, dass ihr euch mal wieder sehen lasst.“ Wir erzählten ihr von der geglückten Aufführung der Hanno Herzig-Geschichte vor einigen Wochen, und Mathilde bedauerte mich meiner Erkältung wegen. „Das sind einige der immensen Annehmlichkeiten des Todseins“, meinte sie vergnügt, „nie krank sein, nie frieren, nie hungrig sein und so weiter und so fort.“
Als ich ihr den Grund unseres Kommens erklärte, nickte sie und sagte: „Die Eltern von Julius und auch Julius selber befinden sich hier. Die Mutter hat einen festen Platz in unserer Gemeinschaft, während Vater und Sohn an ihrem noch arbeiten müssen, wahrscheinlich noch sehr lange. Bevor ich dir erzähle, was ich darüber weiss, muss ich dich aber über etwas Wichtiges aufklären: Wir Toten halten uns kurz nach dem Austritt aus dem Reich der Lebenden eine Weile an einem Ort auf, wo unsere Seele gereinigt wird. Danach fühlen wir uns gut und werden nie mehr krank. Aber wir werden nicht automatisch zu Allwissenden. Was zum Beispiel mit den wirklich schlimmen Verbrechern geschieht, das erfahren wir nicht. Wir müssen uns darum auch nicht kümmern. Wir sind keine Rächer, dafür ist jemand anderer zuständig.“ Mathilde lächelte leise vor sich hin: „Kleinere Vergehen, die uns von Freunden, Bekannten oder Verwandten angetan worden sind, wie zum Beispiel Kränkungen, Verleumdungen oder ähnliches, dürfen wir allerdings selber ahnden. Das macht schon ziemlichen Spass, muss ich zugeben – wir sind also keine Heiligen“, kicherte meine ehemalige Nachbarin leicht verlegen. „Aber“, fuhr sie wieder ernster fort, „unsere Strafen müssen gerecht sein. Wir dürfen keinesfalls Neuankömmlinge quälen. Das können wir nicht, selbst wenn wir es wollten. Von gemeinen und niederträchtigen Empfindungen sind wir durch die Seelenreinigung erlöst worden. Und schliesslich müssen die Neuen ja ihren festen Platz in unserer Gemeinschaft finden, damit wir weiterhin friedlich zusammenleben können.“
Nach diesen Einführungen erfuhr ich schliesslich, dass auch Julius’ Vater diese schreckliche Veranlagung gehabt hatte und Julius sein erstes Opfer gewesen war. „Die Verena und ich, wir waren ja gute Bekannte“, vertraute Mathilde uns an. „Verena hatte es nicht einfach gehabt in ihrem Leben“, erfuhren Korbi und ich. „Sie ahnte lange Zeit nichts von der Veranlagung ihres Gatten, der meist ohne Arbeit war. Während sie auswärts in einem Hotel putzte, um die Familie zu ernähren, kümmerte sich ihr Mann meistens um den kleinen Julius. Das hatte sich bitter gerächt. Als Karl, Verenas Mann, auf dem Sterbebett lag, da beichtete er dem Pfarrer und seiner Frau seine Sünde. Es wurden keine rechtlichen Schritte eingeleitet. Über solche Dinge sprach man nicht. Verena versuchte in der Folge herauszufinden, ob und welche Schäden Julius davongetragen hatte. Sie erkannte diese jedoch erst, als Julius mit achtzehn Jahren eine junge Prostituierte fast umbrachte und dafür ins Gefängnis kam. Wieder schwiegen die Einwohner, auch dann noch, als Julius zurückkehrte. Verena nahm das düstere Geheimnis mit ins Grab, aus Scham. Dem Pfarrer nahm sie aber noch das Versprechen ab, für Julius kranke Seele zu beten, sein Tun in Zukunft zu unterbinden. Fast schien sich ihre Bitte zu erfüllen. Julius heiratete eine Frau aus Mölzen und wurde Vater von zwei Mädchen. Er hat sie beide missbraucht“, sagte Mathilde düster. „Doch dann erlitt er einen Unfall und starb. Er ist ein Ausgestossener hier auf dem Friedhof, genau wie sein Vater. Seine Frau und die Kinder leben nicht mehr im Dorf, sie sind in Mölzen. Was Julius und seinen Vater angeht, über deren Strafen haben nicht wir zu entscheiden. Dafür ist eine höhere Instanz zuständig. Manchmal“, so fügte Mathilde nach einer Weile hinzu, „sehen wir die beiden. Sie halten sich meist am Rande des Friedhofs auf. Wenn sich ihnen jemand nähert, huschen sie weg oder lösen sich auf. Sie pflegen auch keinen Kontakt zu anderen Ausgestossenen hier. Von Zeit zu Zeit verschwinden sie, das heisst sie werden von da oben (Mathilde zeigte mit dem Finger zum schwarzen Himmel empor) abgeholt. Wir wissen nicht genau, was vor sich geht, doch wir nehmen an, dass an ihren Seelen gearbeitet wird. So wird
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