Der fremde Tote
eine Gestalt. Es war eine Frau, und Elsie kannte sie, wenn auch nur von alten Filmen und Plakaten. Der Diva stockte der Atem, sie stand wie angewurzelt. Derweil glitt Mary Pickford, denn sie war es ohne Zweifel, elegant auf Elsies Bettdecke. In malerischer Pose hingestreckt, zog die Pickford an ihrer Zigarette, welche in einem zierlichen Halter steckte, und sagte mit rauchiger Stimme: „Hallo, Elsie. Endlich lerne ich dich einmal persönlich kennen.“
Wie versprochen traf Korbi am frühen Nachmittag ein. Ich hatte gerade geduscht und fühlte mich frisch und gesund. Korbi bereitete Kaffee zu und deckte fürsorglich den Tisch. Er wirkte allerdings nicht gerade ausgeschlafen. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und er hatte sich noch nicht rasiert.
Während wir die weichen Brötchen mit Butter bestrichen, fragte mich Korbi, was ich von der Diva halte.
Ich verstand die Frage nicht ganz. „Nun, ich denke sie ist eine ausgezeichnete Schauspielerin. Warum?“
„Sie rief mich an, als ich gerade unter die Decke kriechen wollte. Sie war total hysterisch und war überzeugt davon, Besuch von einem längst verstorbenen Filmstar aus Hollywood erhalten zu haben. ‚Ich sage dir’, kreischte sie ins Telefon, ‚es war Mary Pickford, und sie war noch ganz jung und wunderschön!’“ – Korbi erkundigte sich behutsam bei der Diva, was Mary Pickford denn von ihr gewollt habe. „Und weißt du, was sie antwortete?“ Ich schüttelte den Kopf, und Korbi rief: „Sie wollte, dass die Diva sie begleitete, versprach ihr, dass sie ebenfalls wieder jung und entzückend werden würde.“
„Sie hat bestimmt geträumt“, räumte ich ein.
„Hätte sie mir so etwas vor einem halben Jahr erzählt, hätte ich das wohl auch geglaubt“, erwiderte Korbi nachdenklich, „nach unseren jüngsten Erlebnissen bin ich mir da aber nicht mehr so sicher.“
Mary Pickford war ein gefeierter Stummfilmstar und eine gewiefte Geschäftsfrau. Sie war mit dem berühmten Schauspieler Douglas Fairbanks verheiratet gewesen. Die Pickford starb 1979 im hohen Alter von 86 Jahren. Und diese Diva hatte also unsere Diva besucht, wollte sie mitnehmen, wer weiss wohin. Korbi mochte Elsie Anderson alias die Diva besonders gern. Ich vermute, sie stellte eine Art Mutter- oder Grossmutterersatz für ihn dar. Elsie wiederum liebte und verwöhnte ihn grenzenlos. Natürlich auch, weil ihr seine Bewunderung für den ehemals berühmten Bühnenstar schmeichelte.
„Wie alt ist Elsie eigentlich?“, fragte ich behutsam.
Korbi schaute mich traurig an: „Sie wird nächstens 80. Wir wollen ihren Geburtstag gross feiern. Aber sie ist noch gut in Schuss, wirkt keinen Tag älter als 70.“ Was immer das auch heissen mochte. Ich spürte Korbis Angst, die Diva zu verlieren. Auch ich mochte sie sehr, doch ich kannte auch ihre Launen. Vielleicht fühlte sie sich in letzter Zeit etwas vernachlässigt von Korbi? Immerhin, seit dieser Friedhofsgeschichte hatte ich Korbi ganz schön in Beschlag genommen. Ob sich die alte Diva diese Geschichte mit der Pickford ausgedacht hatte, um wieder vermehrt von Korbi beachtet zu werden? Möglich wär’s. Ich sagte davon aber kein Wort zu meinem Freund. „Weißt du was“, schlug ich stattdessen vor, „geh mit Elsie heute fein essen, vielleicht noch in die Oper, das lenkt sie bestimmt ab von diesem Traum. Aber vorher ruh dich bitte einige Stunden aus.“
Elsie schwebte wie auf Wolken. Sie sang alte Schlager, zitierte Texte aus ihren einstigen Filmerfolgen. Korbi bewunderte ihr schmal geschnittenes nachtblaues Kleid. „Du siehst umwerfend aus, Liebste.“ Galant küsste er ihr die Hand. „Ach, du junger Schmeichler“, säuselte die Diva. „Ich nehme deine Einladung zum Essen gern an. Danach aber habe ich eine Überraschung für dich.“ Sie speisten im ’Le Miracle’, einem französischen Feinschmeckerlokal im Herzen von Zürich. Korbi kam kaum zu Wort, aber das machte ihm nichts aus, Elsie war charmant und unterhaltsam. Sie erzählte ihm von dem einstigen Traumpaar Mary Pickford und Douglas Fairbanks. „Eigentlich war es ja für diese Zeit, Ende der zwanziger Jahre, eine skandalöse Beziehung. Sowohl Mary wie auch Douglas waren verheiratet. Doch als sie zusammenkamen, da wurden sie nicht beschimpft, sondern noch mehr geliebt vom Publikum“, erzählte Elsie aufgeregt. „Ich war ja noch gar nicht auf der Welt damals, aber später habe ich die Geschichte der beiden verschlungen. Na ja, die beiden blieben nur etwa fünf Jahre
Weitere Kostenlose Bücher