Der fremde Tote
wieder einmal die Leviten las, weil ich ab und zu die Ausbildung hinschmeissen wollte, um durch die Welt zu gammeln. Im Nachhinein musste ich zugeben, es waren drei gute Jahre gewesen. Während wir uns umarmten, dachte ich daran, dass es früher in meinem Leben oftmals Menschen wie ihn gegeben hatte. Solche, die mich auf den Boden der Tatsachen zurückholen mussten, damit ich wieder ’normal’ funktionierte. Eine kleine Drogengeschichte fiel mir ein, und ich fühlte wie ich rot wurde. Der alte Ammann lachte: „Na ja, dieser Vorfall, das war schon was, aber halb so schlimm wie das, was du dir später geleistet hast.“ Sein Gesicht wurde ernst: „Wenn du so weiter machst, dann bist du früher eine von uns, als dir lieb sein kann. Pass auf dich auf, Mädchen!“
Woher wussten diese Leute nur so viel von mir?, überlegte ich eine ganze Weile später auf dem Nachhauseweg. Es stimmte schon, ich lebte ein eher eigenwilliges Leben. Was zwischenmenschliche Beziehungen anging, da war ich wohl eher eine Versagerin. Es ist nicht so, dass ich Menschen nicht mag oder mich nicht für sie interessiere. Nein, sie dürfen mir einfach nicht zu nahe treten. Ich pflege Beziehungen aus der Distanz, und das ist doch gar nicht schlecht. Ich rechtfertigte mich lautstark vor mir selbst, während die dunklen Schatten der Bäume am Strassenrand, die düster dahinziehenden Wolken am noch dunklen Himmel an mir vorbeizogen. Ich merkte, dass ich viel zu schnell fuhr, ausserdem war die Strasse noch nass, und ich konnte leicht ins Schleudern geraten mit meinem alten Käfer.
3. Korbis Traumtheater
Normalerweise tippe ich gleich nach meiner Heimkehr ein zwei Geschichten über die Geisterwelt, genehmige mir eine oder zwei Gläschen Gin und schlafe schliesslich bis zum Mittag. Dann mache ich mich fein, gehe ins 'Caruso’ gleich bei mir um die Ecke Mittagessen. Danach, je nach Lust und Laune, besuche ich Korbi, einen guten Freund, der ein alternatives Theater (eine ehemalige Schmiede) am Stadtrand unterhält, welches er mit viel Liebe und Phantasie eingerichtet hat. Neben seiner aus vier Leuten bestehenden fixen Bühnentruppe (zwei alternde Schauspieler, eine junge Kellnerin mit Schauspielausbildung und eine ehemalige Leinwand-Diva), beschäftigt er auch immer wieder Laiendarsteller direkt von der Strasse. Das sind in der Regel Studenten, Obdachlose, einsame alte oder gelangweilte junge Leute.
Ich liefere Korbi hin und wieder ein kleines Skript. Er studiert es gewissenhaft mit seiner Truppe ein, und da er niedrige Eintrittspreise verlangt, sind seine Vorstellungen meist gut besetzt. Korbi ist dreissig und sucht noch immer nach dem Mann seines Lebens. Er mag meine Drehbücher und ich mag seine Kochkünste und die Art, wie er mit seinen, überhaupt mit allen Leuten umgeht. „Jeder Mensch ist etwas ganz Besonderes, deshalb gehe ich respektvoll und behutsam mit ihnen um“, erklärte Korbi mir einmal.
Einige seiner besten Ideen für seine Aufführungen hat er Obdachlosen, Säufern und anderen besonderen Zeitgenossen zu verdanken. „Ich höre den Menschen gerne zu. Weißt du, Menschen die kein Heim und keine Familie haben, die meist auf der Strasse ihr Leben fristen, die erfahren eine Welt voll rauer Poesie. Sie geben sie in ungelenken Worten wieder, und trotzdem versteht man, wenn man genau hinsieht und hinhört, was sie sagen wollen. Sie erleben akkurat wie wir ’Angepassten’ Liebe, Hass, Freundschaft, vielleicht sogar noch tiefer. Sie haben viel Zeit, um über sich, ihre Umgebung, über die Welt im Allgemeinen nachzudenken. Und was sie dabei herausfinden, das versuche ich einzufangen und auf der Bühne darzustellen.“
Korbi stammt aus einer alten Berner Industriellenfamilie, mit der er nach eigenen Aussagen nichts mehr am Hut hat. Er hat Theaterwissenschaften studiert und sich das Geld dafür als Pizza-Bote, Tellerwäscher und sogar als Mädchen für alles in einem Bordell verdient. „Auf der Strasse oder bei den Mädchen im Puff findest du die wahre Dichtkunst“, pflegte Korbi oft zu sagen. „Denk nur an das Märchen von dem armen Mädchen, das barfuss Zündhölzer im Winter verkauft ...“ Korbi war ein Träumer, ähnlich wie ich. Die sogenannte Realität berührte ihn kaum.
In dieser Nacht aber, nach meiner Begegnung mit den Friedhofsbewohnern, konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich schrieb kein einziges Wort. Zuerst musste ich Ordnung in meine Gedanken bringen. Es war einfach zu phantastisch. Ich duschte lange und heiss
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