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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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meinen siebenundvierzig Jahren war ich am Ende meiner beruflichen Möglichkeiten angekommen. So empfand ich es zumindest, da ich keine weiteren ehrgeizigen Pläne oder Träume mehr hatte. Jedoch war ich alles andere als zufrieden mit der Situation. Ich arbeitete als Redakteur bei einer mittelgroßen Tageszeitung im Ressort Politik und Zeitgeschehen. Beschäftigte mich also tagein, tagaus sowohl mit den Niederungen als auch mit den großen Ereignissen der Bundes- und Weltpolitik. Was mich zunehmend ermüdete. Wobei ich besser sagen sollte: Ich hatte das Interesse daran verloren. Nicht gerade eine gute Voraussetzung, um ein engagierter Beobachter oder Kommentator der politischen Geschehnisse zu sein. Im Laufe der Jahre jedoch hatte ich mein handwerkliches Können so perfektioniert, dass ich mein Fühlen und Denken gut dahinter verstecken konnte. Niemand bemerkte die innere Distanz zu den Inhalten meiner Arbeit. Ich schrieb, wie immer, ordentliche Artikel, kommentierte ab und zu besondere politische Ereignisse und beteiligte mich scheinbar interessiert an den täglich stattfindenden Redaktionskonferenzen. Mit meinem Herzen allerdings war ich nicht dabei. Mein Herz war stets weit weg. Mal in einem Gedicht von Dylan Thomas:
    » ... schlafen in der Glut einer schwindenden Sonne ...«
    Mal in der Erinnerung an einen glücklichen, goldklaren Herbsttag.
    Mal in einer Sehnsucht nach Schnee, Gebirge und sakraler Musik.
    Das Geschehen in meinem Land und auf den Kontinenten dieser Erde berührte mich nur noch selten. Es sei denn, es handelte sich um wirklich große und wichtige Vorkommnisse. Um Kriege, Terroranschläge oder gewaltige Umweltkatastrophen.
    Ansonsten zogen die täglichen Nachrichten einfach an mir vorbei. Meine Sicht auf die Welt veränderten sie schon lange nicht mehr.
     

    Neben der Zeitung gab es damals in meinem Leben eigentlich nur noch Anna, meine Frau Anna. Seit dreizehn Jahren führten wir eine durchaus harmonische und beinahe streitfreie Ehe und hatten viele unserer Träume verwirklicht. Wir waren fast um die ganze Welt gereist, hatten zusammen ein Buch geschrieben, Fallschirmspringen gelernt, einen Hundewelpen aufgezogen und in unser Herz geschlossen - und schließlich unser Haus gemeinsam geplant und den Bau akribisch überwacht.
    Der Hund, unser Paulchen, war zum Zeitpunkt meines Unfalls schon knapp ein halbes Jahr tot.
    Das Fallschirmspringen hatte ein jähes Ende gefunden, nachdem ein guter Bekannter von uns bei einem Sprung ums Leben gekommen war. Danach hatten wir keine Lust mehr, uns aus dem Himmel fallen zu lassen.
    Unser Buch, ein unkonventioneller Reiseführer über Südengland, war ein Flop.
    Und die Reiseplanung wurde von Jahr zu Jahr schwieriger, weil wir gar nicht mehr wussten, wohin wir noch fahren sollten. Die interessantesten Gegenden hatten wir bereits erkundet.
    Also blieb uns nur noch das Haus.
    Es war ein wirklich schönes Haus. Etwa fünfzehn Kilometer vor den Toren der Stadt gelegen, ein mondäner Bungalow mit sechs Zimmern und zwei Bädern, strahlend weiß gestrichen und mit einer Eingangstür aus Edelstahl. Im Garten stand ein riesiger alter Walnussbaum, und in einem kleinen Anbau hatten wir uns eine finnische Sauna eingerichtet.
    Anna war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Und trotz der vielen gemeinsamen Jahre gingen wir so zärtlich miteinander um, als wäre unsere liebe noch ganz jung. Wir vertrauten einander vollkommen, und für mich war absolut klar, dass wir unser gesamtes Leben miteinander verbringen würden. Ein großer Schatten allerdings lag auf unserer Beziehung: Wir konnten keine Kinder bekommen. Über Jahre hinweg hatten wir uns nichts sehnlicher gewünscht und keine Gelegenheit ausgelassen, uns unseren schönsten Lebenstraum zu erfüllen. Aber vergeblich. Ich bin zeugungsunfähig. Als dies nach langen und komplizierten Untersuchungen endlich feststand, hatte ich für kurze Zeit Angst, Anna würde mich verlassen. Aber sie blieb. Sie sagte, dann solle es eben so sein. Eine Adoption kam für sie nicht infrage. Für mich wäre diese »Ersatzlösung« durchaus denkbar gewesen, aber Anna meinte, entweder ein eigenes Kind oder dann eben gar keins. Warum sie so rigoros dachte, weiß ich nicht. Ich hatte Scheu, sie danach zu fragen oder gar mit ihr darüber zu diskutieren - und so versuchte ich auch kein einziges Mal, sie zu überzeugen. Denn ich fand, in dieser Frage dürften keine Argumente zählen, sondern nur das Herz. Und Annas Herz hatte sich gegen ein fremdes Kind

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