Der Geisterfahrer
die Interpretation ihres Lehrers und traue sich zu, die Lieder so zu begleiten, dass sich der Sänger wohlfühle.
Nach kurzer Beratung trat der Abendintendant wieder auf die Bühne, um dem Publikum mitzuteilen, der Pianist werde ärztlich betreut, könne aber nicht weiterspielen, und die Schülerin aus seiner Meisterklasse, Frau Bianca Carnevale, die ihm sonst die Seiten gewendet hätte, sei bereit, für ihn die Begleitung des Sängers zu übernehmen, damit sie nicht auf das Konzert verzichten müssten. Sollte jemand unter dieser Voraussetzung den Saal verlassen wollen, sei ihm das selbstverständlich freigestellt, und das Eintrittsgeld werde ihm zurückerstattet. Ein kurzes Raunen ging durch den Saal, bei der Nennung des Namens hatte man den einen oder andern Lacher gehört, aber dann applaudierte das Publikum einhellig, alle blieben
sitzen, denn alle waren sie in erster Linie des Sängers wegen da und hatten schon befürchtet, um den Genuss seiner Stimme zu kommen.
Dieser hob nun erneut zum unterbrochenen Lied an, sang Schuberts »Ich hört’ ein Bächlein rauschen«, und vom ersten Moment an war klar, dass die Begleitung so leicht und wunderbar floss, als wäre sie das Bächlein selbst.
Obschon auf dem Programmzettel die Bitte stand, man möge die einzelnen Lieder nicht durch Beifall unterbrechen, gab es am Schluss des Liedes einen großen Applaus. Er galt ganz deutlich der eingesprungenen Begleiterin und war als Bestätigung und als Ermutigung gedacht, weiterzufahren. Und es ging ohne die geringste musikalische Einbuße weiter, der Sänger entspannte sich zusehends, denn es zeigte sich, dass Bianca die hohe Kunst des Begleitens, jene delikate Mischung aus Zurückhaltung und Präsenz, vortrefflich beherrschte. Sie war eher leiser als ihr Lehrmeister, ließ aber in den kleinen Zwischenspielen Läufe wie kostbare Perlenketten aufblitzen, etwa in Schuberts »Taubenpost«, und in der kleinen Begleitfigur zu Mendelssohns »Leise zieht durch mein Gemüt« schwang ein Zauber mit, der mit der Feinheit ihres Anschlags und vielleicht auch etwas mit ihrer jugendlichen Schönheit zu tun hatte.
Schon in der Pause, in welcher Bianca als Erstes das Glas mit dem Orangensaft sorgfältig auswusch, bedankte sich der Sänger bei ihr aufs herzlichste und zeigte sich des Staunens und des Lobes voll über ihr Können, das er bei der Seitenwenderin nicht vermutet hatte, wenngleich er wusste, dass sie eine Schülerin seines bevorzugten Begleiters war.
Der zweite Teil hielt denn auch durchaus, was der erste versprach, und Bianca riskierte ab und zu eine kleine Überraschung. So machte sie in den »Zwei Grenadieren« von Schumann das Crescendo in der Schlussphantasie des Soldaten, der als Schildwach’ im Grabe warten will, bis er gewappnet hervor aus dem Grab steigen kann, um den Kaiser, den Kaiser zu schützen, dieses Crescendo also machte sie nicht mit, sondern ersetzte es durch ein spitzes, trockenes Staccato, das die ganze Hoffnungslosigkeit des armen Kerls stärker ausdrückte als das vorgeschriebene Forte-Spiel, und ließ es in ein pianissimo des Nachspiels übergehen, bei dem man fast den Atem anhalten musste.
Herzzerreißend ihre Imitation des Leierkastens in Schuberts traurigem »Leiermann«, wo es ihr gelang, die immer gleiche Melodie so unbeholfen zu spielen, dass man die starren Finger des Leiermanns zu spüren glaubte, während sie Beethovens »Ich liebe dich, so wie du mich« nicht leise, wie es der Komponist vorsah, sondern so ungestüm begleitete, dass sie den Sänger zu einer Interpretation trieb, die bedeutend leidenschaftlicher war als seine übliche. Die Seiten wendete sie den ganzen Abend lang selbst, ohne dass irgendetwas ins Stocken geriet dabei.
Der Schlussapplaus war überwältigend, und es war ganz klar, dass er zu gleichen Teilen der neuentdeckten Begleiterin wie dem Sänger galt. In der Garderobe erwartete sie der Abendintendant mit der Nachricht, dem Pianisten gehe es besser, und man nehme an, dass er das Krankenhaus in zwei, drei Tagen verlassen könne. Dann waren zwei Musikkritiker da, welche beide mit Bianca sprechen wollten. Einer von ihnen war dabei gewesen, als der junge,
unbekannte Tenor Fritz Wunderlich an der Stuttgarter Staatsoper 1955 für den erkrankten Josef Traxel als Tamino in Mozarts »Zauberflöte« einspringen konnte und über Nacht berühmt wurde, und er prophezeite Bianca ein ähnliches Schicksal, jedenfalls, so sagte er, wolle er in seiner Besprechung sein Möglichstes dafür
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