054 - Die Gespenster-Dschunke von Shanghai
Eine
Viertelstunde vor ihrem Tod war Madleen Cordes noch fröhlich und guter Dinge.
»Die Nacht ist herrlich!« schwärmte sie träumerisch, stand an der Reling der
kleinen Yacht und blickte auf das nächtliche Meer. In der Dunkelheit flimmerten
wie beleuchtete Perlen an einer Schnur die Lichter von Hongkong. Sie waren etwa
fünf Seemeilen entfernt. Das Meer war ruhig, die weiße Yacht schaukelte sanft
auf den Wellen. Die Worte, die die siebenundzwanzigjährige Britin sprach,
galten dem schmalen Chinesen an ihrer Seite. Mister Wang.
Er
hatte sie auf seiner Yacht mitgenommen, und Madleen wußte die Ehre zu schätzen.
Mister Wang galt als kontaktarm und scheu. Er lebte sein eigenes,
zurückgezogenes Leben. Dabei gehörte er zu den reichsten Männern der britischen
Kronkolonie. Wang war passionierter Junggeselle und Hersteller der feinsten
Seiden und Stoffe des Landes. Als Einkäuferin aus London war Madleen Cordes
nach Hongkong gereist. Es war ihr erster Kontakt zu dem menschenscheuen
Sonderling, den sie jedoch sehr sympathisch fand. »Wir sind weit draußen«,
sagte er leise zu ihr, und sie konnte seine Worte eben noch verstehen. »Der
Lärm und die Hektik der Millionenstadt dringt nicht bis zu uns hierher. Es ist
auch unwahrscheinlich, daß hier, westlich der Straße von Formosa, eine Dschunke
unseren Weg kreuzt. Die meisten laufen nicht so weit raus. Sie drängen sich in
den Buchten von Kowloon. Die Dschunken und Tausende von Hausbooten, sogenannte
Sampans, liegen dort. Eine einzige schwimmende Stadt.«
»Das
ist ein Teil Hongkongs«, lächelte Madleen Cordes. »Es macht seine Atmosphäre
aus, deshalb komme ich immer wieder gern hierher…«
»Zum
wievielten Mal sind Sie schon hier, Miß Cordes?«
»Zum
fünften. Und ich kenne Hongkong noch immer nicht. Allein dieses Bild vom Meer
aus. So phantastisch, so faszinierend habe ich die Weite außerhalb und die
Silhouette Hongkongs noch nie erlebt.«
»Viele,
die sie so sehen konnten, leben auch nicht mehr«, meinte Mister Wang
nachdenklich. Auch er lehnte an der Reling und blickte in die Ferne. Er trug
einen weißen Anzug, wirkte klein und unscheinbar und war doch einer der ganz
Großen. Leise plätscherte das Wasser gegen die Außenwände des Bootes, die
Sterne funkelten im schwarzblauen Wasser des Südchinesischen Meeres. »Wie
meinen Sie das?« fragte die dunkelhaarige Besucherin aus London. Sie wandte dem
Sprecher ihr Gesicht zu und musterte den Mann im weißen Anzug von der Seite.
»Es gab eine Zeit, die glücklicherweise schon lange zurückliegt, da herrschte
große Unsicherheit entlang dieser Küstenlinie, bis hoch nach Shanghai und noch
weiter. Die Menschen fürchteten die Gespenster-Dschunke aus Shanghai.«
»Davon
habe ich noch nie gehört.«
Er
lächelte abwesend. »Wenn Sie fünfzigmal in Hongkong gewesen sind, brauchen Sie
noch nie davon gehört zu haben. Jeder kennt die Legende, aber im allgemeinen
wird nicht darüber gesprochen. Ein geschäftstüchtiger Manager scheint dieses Tabu
allerdings jetzt durchbrochen zu haben. Seit einigen Monaten gibt’s eine neue
Attraktion in Hongkong, sowohl für die Touristen dieser Stadt als auch für die
Einheimischen.«
»Und
was für eine Attraktion ist das?«
»Das
Gespensterschiff, von dem ich Ihnen eben erzählte. Einer ist auf die Idee
gekommen, die Dschunke nach alten Überlieferungen nachzubauen und einzusetzen.
Jeder, der Lust hat, kann gegen gutes Geld den Service der Mannschaft und des
Käpt’n in Anspruch nehmen.«
»Und
was ist das für ein Service?«
»Man
gibt der Firma Bescheid, daß beispielsweise ein Überfall während einer
Exkursion stattfinden soll. Nach Piraten-Manier werden Touristen-Barkassen und
Dschunken überfallen und die Menschen, die sich darauf befinden, verschleppt.
Das ist allerdings recht kostspielig und wird, wie schon angedeutet,
meistens nicht von Privatpersonen in Anspruch genommen, sondern eben von
Reisegesellschaften, die das sogenannte abenteuerliche, unheimliche Hongkong in ihr Programm aufgenommen haben.« Madleen schüttelte den Kopf. Ihre Haare
flogen. »Das ist das erste, was ich darüber höre. Sie scherzen, Wang.«
»Nein,
es ist die Wahrheit«, antwortete der Chinese todernst. Die Engländerin strich
sich das Haar aus der Stirn. »Was die Leute sich alles einfallen lassen, um
Geld zu verdienen«, bemerkte sie kopfschüttelnd. »Und was ist das kleine
Programm für den schmalen Geldbeutel?«
»Sie
könnten zum Beispiel die Dschunke während einer
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