Der Geisterfahrer
tun.
Dann waren sie vom Veranstalter zum Essen eingeladen, wo wiederum Biancas Auftritt das Hauptgespräch war, und als sie im Taxi mit dem Sänger zusammen ins Hotel zurückgekehrt war, lud sie dieser noch zu einem Bier an der Bar ein und fragte sie, als er mit ihr auf den Abend angestoßen hatte, ob er sie vielleicht als Begleiterin engagieren dürfte.
Bianca lächelte, dankte für die, wie sie sich ausdrückte, ehrenvolle Anfrage und sagte, das gehe leider nicht.
»Warum denn?«, wollte der Sänger wissen.
»Ich gehe morgen in ein Kloster«, sagte Bianca.
Der Sänger war sprachlos. »Aber –«, sagte er nach einer Weile, »aber – Ihre ganze Ausbildung, Ihr Können?«
Das werde sie dort auch brauchen können, gab Bianca zur Antwort, gab auch keine Auskunft, wo dieses Kloster sei, und sagte ihm nur, der Entscheid sei gefallen.
Der Sänger konnte es nicht fassen. Das sei ein großer Verlust für die Musik, sagte er; wie sie Konzerte interpretiere, wisse er nicht, aber er könne ihr nur sagen, dass sie als Liedbegleiterin zu den wenigen ganz Großen gehöre, und er wisse, wovon er spreche. Einfach in einem Kloster zu verschwinden, das könne sie der Musik nicht antun, und ihm auch nicht.
»Ihnen?«, fragte Bianca, »aber Sie haben doch die Besten zur Verfügung.«
»Das schon, aber…«
Der Sänger stockte.
»Aber?«, fragte Bianca.
»Aber ich liebe Sie«, sagte er leise.
Nun war Bianca sprachlos.
»Vom ersten Moment an, als ich Sie sah«, fügte er hinzu und legte seine Hand auf die ihre.
Das wäre, entgegnete Bianca nach einer Weile, unter andern Vorzeichen sehr schön für sie, aber ihr Entschluss sei, wie gesagt, gefasst, und sie habe dafür ihre Gründe.
Welcher Art denn diese Gründe seien, wollte sie nicht sagen, und als sie sich vor der Lifttüre verabschiedeten, küsste er sie auf die Stirne und sagte, »Ich liebe dich« habe er heute nur für sie gesungen, und er habe gehofft, ihre so ungewöhnliche Begleitung bedeute so etwas wie »so wie du mich«.
Am andern Morgen fand der Sänger unter seiner Tür zwei Briefe von Bianca, einen für ihn und den andern für seinen Begleiter. Ihm schrieb sie, sie sei sehr gerührt und möge ihn sehr gerne, aber es sei nicht zu ändern und er solle doch bitte ihrem Lehrer den zweiten Brief mitbringen, wenn er ihn heute im Spital besuche, sie müsse leider sofort abreisen und könne ihn nicht mehr sehen.
Das war 1974. Bianca verschwand von einem Tag auf den andern, ohne dass jemand wusste, wo sie sich aufhielt, es war, als ob sie sich unsichtbar gemacht hätte. Ihren Bruder und ihre Mutter rief sie an, bat sie, sich um sie keine Sorgen zu machen und sie nicht zu suchen, sie brauche einen Ort der Ruhe und fange ein neues Leben an. Konzertagenturen
und Zeitungsleute, die nach ihr fragten, ebenso ihr Lehrer und die Leitung des Konservatoriums kamen nicht weiter als bis zu Bruder und Mutter, die ihnen nicht mehr sagen konnten.
Im Frühling des Jahres 2011 saß in einer Seniorenresidenz ein alter Mann im Rollstuhl am Fenster seines Zimmers und blickte versonnen auf die blühenden Forsythien im Park.
Die Bibliothekarin des Hauses, die auf Wunsch auch zum Vorlesen kam, hatte ihm einen Zeitungsartikel mitgebracht. Sie wusste, dass sich der vormals berühmte Sänger immer für Nachrichten aus dem Gebiet der Musik interessierte und las ihm einen Bericht vor, den sie in einer Wochenzeitung gefunden hatte. Er erzählte von einem franziskanischen Nonnenkloster im Grenzgebiet zwischen Argentinien und Paraguay, das sich auf eine seltsame Art gegen ein Kraftwerkprojekt wehrte, welches Dutzende von Dörfern, darunter auch dasjenige, in dem das Kloster stand, zu überschwemmen drohte. Die Nonnen blockierten die Zufahrtsstraße, auf der die Bagger und Baumaschinen die geplante Baustelle im Urwald erreichen wollten, und sangen Choräle. Ihr Gesang sei so schön gewesen, dass niemand gewagt habe, sie mit Gewalt wegzutreiben, die Polizisten und Militäreinheiten, welche man dazu aufgeboten habe, seien alle von den Klängen der Frauenstimmen verzaubert worden, und damit immer jemand präsent war, auch nachts, sei der Chor ständig ergänzt und verstärkt worden, auch durch Frauen aus den Dörfern, es hätten sich geistliche Gesänge mit alten Volksweisen in
Guaraní abgewechselt. Fernseh- und Radiosender hätten Reportagen über diesen Widerstand gebracht, und die Regierung sei so lange unter Druck geraten, bis sie die Bewilligung für den Dammbau für ein Jahr
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