Der Genesis-Plan SIGMA Force
ruhigzustellen, hatten sie ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben.
Das Kind war der eigentliche Grund für den Abscheu, den Jakob empfand. Alle Hoffnungen des Dritten Reichs ruhten in diesen kleinen Händen – in den Händen eines Judenkinds. Bei dieser Vorstellung drehte sich ihm der Magen um. Am liebsten hätte er das Kind mit dem Bajonett aufgespießt. Aber er hatte seine Befehle.
Auch Tola beobachtete das Kind. In ihren Augen flammte eine Mischung aus Zorn und Kummer. Tola hatte nicht nur ihren Vater bei seinen Forschungen unterstützt, sondern sich auch um den Säugling gekümmert, ihn in den Schlaf gewiegt und gefüttert. Das Kind war der einzige Grund, weshalb die Frau überhaupt mit ihnen kooperiert hatte. Die Drohung, den Jungen zu töten, hatte Tola bewogen, Jakobs Forderungen nachzugeben.
Über ihnen detonierte eine Granate. Die Druckwelle warf sie alle auf die Knie nieder und löschte die anderen Geräusche in einem gewaltigen Dröhnen aus. Beton barst, Staub rieselte ins stinkende Wasser.
Fluchend richtete Jakob sich wieder auf.
Oskar Henricks, sein Stellvertreter, setzte sich vor ihn und zeigte zu einer Abzweigung des Abwasserkanals.
»Wir nehmen diesen Tunnel, Obergruppenführer. Ein alter Überlaufkanal. Der Übersichtskarte zufolge mündet der Hauptkanal nicht weit von der Kathedraleninsel in den Fluss.«
Jakob nickte. In der Nähe der Insel sollten zwei mit einer weiteren Kommandoeinheit bemannte getarnte Kanonenboote auf sie warten. Bis dorthin war es nicht mehr weit.
Während das russische Bombardement immer heftiger wurde, beschleunigte er das Tempo. Das Bombardement leitete offenbar den entscheidenden Vorstoß des Gegners ein. Die Kapitulation der Stadt war unvermeidlich.
Als Jakob die Abzweigung erreichte, kletterte er aus der stinkenden Brühe auf den Betonsims des Seitentunnels. Bei jedem Schritt machten seine Stiefel glucksende Geräusche. Der widerliche Gestank von Exkrementen und Schlamm wurde vorübergehend unerträglich, als wollte ihn der Abwasserkanal aus seinem Inneren vertreiben.
Der Rest des Kommandos folgte ihm.
Jakob leuchtete mit der Taschenlampe in den Betontunnel hinein. Roch die Luft nicht schon etwas frischer? Er schritt energischer aus als zuvor. Die Rettung war in greifbarer Nähe; sie hatten es fast geschafft. Seine Einheit würde Schlesien halb durchquert haben, bevor die Russen auch nur in das unterirdische Labyrinth des Wenceslas-Stollens vorgedrungen wären. Als Willkommensgruß hatte Jakob in den Gängen des Labortrakts Sprengfallen versteckt. In dem Berg würden die Russen und ihre Verbündeten nichts als den Tod finden.
Frischen Mutes eilte Jakob der frischen Luft entgegen. Der Betontunnel wies ein schwaches Gefälle auf. Das Tempo nahm zu. Ihre Schritte wurden beflügelt von der plötzlichen Stille zwischen den Artilleriesalven. Die Russen griffen mit aller Macht an.
Es würde knapp werden. Die Fluchtroute über den Fluss würde ihnen nicht mehr lange offen stehen.
Als spürte er die Anspannung, begann der Säugling leise zu weinen, ein dünnes Greinen. Die Wirkung des Beruhigungsmittels ließ allmählich nach. Jakob hatte dem Arzt eingeschärft, das Mittel schwach zu dosieren. Sie durften das Leben des Kindes nicht gefährden. Das war vielleicht ein Fehler gewesen …
Das Weinen wurde durchdringender.
Irgendwo im Norden detonierte eine einzelne Granate.
Das Greinen steigerte sich zu einem lauten Wimmern, das durch den Betonschlund hallte.
»Bringen Sie das Kind zum Schweigen!«, befahl er dem Soldaten, der den Säugling trug.
Der kreidebleiche, klapperdürre Mann nahm das Bündel von der Schulter, wobei er die schwarze Mütze verlor. Er wickelte den Jungen aus seiner Decke, was das Geschrei aber nur noch weiter steigerte.
»Bitte … lassen Sie mich das machen«, sagte Tola. Sie stemmte sich gegen den Griff des Mannes, der sie am Ellbogen festhielt. »Das Kind braucht mich.«
Der Soldat mit dem Säugling sah fragend Jakob an. Draußen war es still geworden. Das Weinen hielt an.
Jakob schnitt eine Grimasse und nickte.
Man schnitt Tola die Handfesseln durch. Sie massierte sich kurz die eingeschlafenen Hände, dann griff sie nach dem Kind. Der Soldat war froh, ihr seine Bürde übergeben zu können. Tola barg den Säugling in der Armbeuge, stützte ihm den Kopf und wiegte ihn sanft. Sie beugte sich dicht auf ihn hinunter und flüsterte beruhigende Laute. Ihr ganzes Wesen hatte sich dem Kind zugewandt.
Das Geschrei machte leisem Wimmern
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