Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika (German Edition)
täglich mit seiner Harpune fischen ging. Ich dachte an meine Unterhaltung mit Mark, als ich sagte, wenn ein guter Schwimmer nicht gegen die Strömung ankam, wie konnte ein anderer ihn herausziehen? Ich sah mich wild nach etwas um – irgendetwas, was sich als Lösung anbie ten mochte. Ich vermute, dass alle anderen dasselbe taten.
In den paar Sekunden, die es dauert, um diese Gedanken zu den ken, hechtete ein Kolumbianer ins Wasser und schwamm durch die Brandung auf Mark zu, der immer noch wassertretend winkte.
Der Kolumbianer erreichte Mark. Die beiden schienen zu spre chen, während ihre Köpfe zwischen den Wellen auf und ab schau kelten und im Blickfeld abwechselnd mal erschienen und dann wieder verschwanden. Dann drehte sich der Kolumbianer um und schwamm mit kräftigen Zügen zurück zum Strand. Mark be gann, ihm zu folgen, und nahm offensichtlich all seine Kraft für eine letzte große Anstrengung zusammen.
Er machte ein paar Züge und schaffte es auf eine Welle und nä her an den Strand. Der Kolumbianer durchbrach die Brandungswel le und war nun auf der sicheren Seite der brechenden Wel en, die dem Strand zugekehrt war. Darauf kam es an: Nur drei oder vier kräftige Züge brachten einen durch eine entscheidende brechende Welle – und plötzlich war man in Sicherheit. Umgekehrt war genau das auch so gefährlich: Der Weg vom sicheren zum verräterischen Wasser betrug nur ein paar Meter. Wenn man diese feine Linie überquerte, wurden einem die Beine weggezogen, und man geriet in große Schwierigkeiten. Ich hatte es auch gespürt, als ich in der Brandung gespielt hatte: Dieses Gefühl, dass einen nur eine winzige Fehleinschätzung von der Katastrophe trennte. Es machte mir Angst. Wir sahen zu, wie Mark mit den Wellen kämpfte. Mein Magen zog sich zusammen. Wir waren hilflos, wie Zuschauer in einem Live-Sportereignis. Aber das war kein Spiel. Das war ein echter Todeskampf. Hier ging es um Leben und Tod.
Einen Augenblick lang schien es, als wäre er in Sicherheit. Er kam näher. Noch während wir zusahen, konnte ich mir vorstellen, wie Mark auf uns zu schlenderte, ein breites Grinsen im Gesicht, und mit triumphierender Geste ein neues Abenteuer präsentierte, bei dem er wieder einmal nur knapp davongekommen war. Dafür lebte er: Man konnte es manchmal in seinen Augen sehen. Es würde aber keine Gelegenheiten mehr geben, in denen er knapp davon kam. Plötzlich brach eine große, schäumende Welle krachend über ihm. Anstatt an Land zu kommen, wurde er wie der hinaus gerissen. Die nächste Welle war ebenfalls groß. Als sie brach, wurden die schäumend-weißen Reste auf den Sand des Strandes gespült. Als das Wasser zurückfloss, war da nichts.
Nichts.
Total schockiert standen wir da. „Er ist weg“, sagte Melissa leise. Es hatte nicht mehr als ein paar Minuten gedauert.
✷ ✷ ✷
Der Fischjunge
Wir wussten es sofort. Er war weg. Tot. Ertrunken. Wir spürten es mit einer steinernen, kalten Gewissheit, die einen im Magen erfasst – wie ein Schlag in den Solar Plexus. Genau dort trifft es einen. In den Magen. Ein Gefühl des Taumelns, Fallens und Pres sens, wie wenn man bei der Achterbahn über den Scheitelpunkt rollt.
Phillipe und ein paar andere hatten gesehen, was sich abgespie lt hatte, und gesellten sich zu uns. Carlos war nicht in der Nähe. Ich frage mich, ob er hinausgegangen wäre und versucht hätte, Mark zu retten, wenn er hier gewesen wäre.
Wir standen für einen Augenblick, der uns wie eine Ewigkeit vorkam. Niemand wusste, was man tun konnte. Was hätten wir schon tun können? Es war doch längst vorbei. Es war einfach zu spät. Die Kolumbianer am Strand spielten immer noch Frisbee und achteten gar nicht auf das Drama, das sich ein paar Meter weiter gerade abgespielt hatte. Ich versuchte, mich zu konzen trieren. Sollte ich etwas tun? Sollte ich wütend sein? Sollte ich weinen? Sollte ich mich schuldig fühlen, weil ich nicht versucht hatte, ihn zu retten? Mir fiel aber absolut nichts ein. Außer dass es schon vorüber, schon zu spät war.
Menschen sind zum Handeln geschaffen. Unsere Instinkte ha ben sich so entwickelt, dass sie auf Gefahren reagieren. In einer Krise schicken sie Adrenalin durch den Körper. Aber die Krise war schon vorbei. Unser ganzes Leben sind wir, bewusst oder un bewusst, auf der Ausschau nach Gefahren, bereit, beim leisesten Knacken eines Zweigs im Unterholz zu reagieren. Nun war das Schlimmste passiert. Aber die Sache war gelaufen. Panik
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