Der größere Teil der Welt - Roman
sie die Schule versäumte, dagegen aufwog, dass sie irgendwo zu Gast wäre, oder die Frage, ob ein längerer Aufenthalt bei einer Freundin möglich wäre, ohne dass die Eltern dieser Freundin Kontakt zu ihrer Mutter haben müssten. Dolly wusste es nicht. Vielleicht wusste Lulu es selbst auch nicht. »Wohin?«, fragte Lulu.
Dolly war verwirrt, es war ihr nie leichtgefallen, Lulu etwas abzuschlagen. Aber bei der Vorstellung ihrer Tochter mit dem General an einem Ort schnürte sich ihre Kehle zusammen. »Das – das kann ich dir nicht sagen.«
Lulu protestierte nicht. »Aber, Dolly?«
»Ja, Herzchen?«
»Können deine Haare wieder blond werden?«
Sie warteten auf Kitty Jackson in einer Lounge neben einer privaten Landebahn des Kennedy Airport. Als die Schauspielerin endlich eintraf, in Jeans und mit einem verwaschenen gelben Sweatshirt, hätte Dolly am liebsten einen Rückzieher gemacht – warum hatte sie sich bloß nicht zuerst mit Kitty getroffen? Diese Frau sah einfach fertig aus, vielleicht würde sie nicht einmal erkannt werden. Nur ihre Haare waren noch blond – (aus Trotz ungekämmt und auch, wie es aussah, ungewaschen), und ihre Augen waren noch groß und blau. Aber in ihrem Gesicht hatte sich ein sarkastischer Ausdruck breitgemacht, als ob diese blauen Augen sich gen Himmel verdrehten, selbst wenn sie einen direkt ansahen. Vor allem dieser Gesichtsausdruck und weniger die ersten Spinnwebfältchen um Kittys Augen und um ihren Mund ließ sie nicht mehr jung oder auch nur jugendlich wirken. Sie war überhaupt nicht mehr Kitty Jackson.
Als Lulu einmal zur Toilette ging, erklärte Dolly der Schauspielerin eilig, was sie zu tun hatte: so glamourös aussehen wie nur möglich (Dolly warf einen besorgten Blick auf Kittys Köfferchen), sich demonstrativ an den General schmiegen, während Dolly mit einer versteckten Kamera Fotos machte. Sie hatte auch eine echte Kamera, aber die war bloß ein Requisit. Kitty nickte, und der Anflug eines Grinsens kräuselte ihre Mundwinkel.
»Sie haben Ihre Tochter mitgebracht?«, war ihre einzige Antwort. »Um den General zu treffen?«
»Sie wird den General nicht treffen« zischte Dolly, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Lulu noch auf der Toilette war. »Sie weiß rein gar nichts über den General. Bitte, erwähnen Sie seinen Namen nicht in ihrer Gegenwart.«
Kitty musterte Dolly skeptisch. »Die Kleine hat Glück«, sagte sie.
In der Abenddämmerung stiegen sie in das Flugzeug des Generals. Nach dem Start bestellte Kitty bei der Stewardess der Fluggesellschaft des Generals einen Martini, stürzte ihn herunter, klappte ihre Rückenlehne nach hinten, zog sich eine Schlafmaske (das Einzige an ihr, das neu aussah) über die Augen und fing an zu schnarchen. Lulu beugte sich über sie und musterte das Gesicht der Schauspielerin, das in dieser entspannten Haltung jung und unberührt aussah.
»Ist ihr schlecht?«
»Nein.« Dolly seufzte. »Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
»Ich glaube, sie braucht Urlaub«, sagte Lulu.
Zwanzig Kontrollpunkte gingen ihrem Eintreffen auf dem Landgut des Generals voraus, und bei jedem schauten zwei Soldaten mit Maschinenpistolen in den schwarzen Mercedes. Dolly, Lulu und Kitty saßen auf dem Rücksitz. Viermal mussten sie aussteigen und sich in der gleißenden Sonne bei vorgehaltenem Gewehr abtasten lassen. Jedes Mal suchte Dolly in der einstudierten Selbstbeherrschung ihrer Tochter nach Anzeichen für ein Trauma. Im Auto saß Lulu sehr gerade da, mit der rosa Kate Spade-Schultasche auf dem Schoß. Sie erwiderte die Blicke der Männer mit den Maschinengewehren mit derselben Gelassenheit, mit der sie die vielen Mädchen bedachte, die in den vergangenen Jahren vergeblich versucht haben mussten, sie aus dem Sattel zu heben.
Hohe weiße Mauern umgaben die Straße. Darauf saßen in einer Reihe Hunderte von rundlichen, glänzend schwarzen Vögeln, deren lange lila Schnäbel sichelförmig geschwungen waren. Dolly hatte solche Vögel noch nie gesehen. Sie sahen aus wie Vögel, die kreischten, aber immer wenn ein Autofenster nach unten glitt, um einen weiteren bewaffneten Wachposten misstrauisch hereinspähen zu lassen, brachte die Stille Dolly aus der Fassung.
Endlich tat sich die Mauer auf, und der Wagen bog von der Straße ab und kam vor einem riesigen Anwesen zum Halten: üppig grüne Gärten, rieselndes Wasser, ein weißes Herrenhaus, das kein Ende zu nehmen schien. Die Vögel hockten auf dem Dach und sahen herunter.
Der Fahrer öffnete
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