Der größere Teil der Welt - Roman
sagte Bennie und ging weiter. »Sasha. Ich habe schon lange nicht mehr an sie gedacht.«
»Wie war sie so?«
»Sie war großartig«, sagte Bennie. »Ich war verrückt nach ihr. Aber dann hat sich herausgestellt, dass sie ein Langfinger war.« Er schaute Alex an. »Sie hat gestohlen.«
»Du machst Witze.«
Bennie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das war eine Art Krankheit.«
Alex’ Gedanken versuchten eine Verbindung herzustellen, aber er konnte sie nicht zustande bringen. Hatte er gewusst, dass Sasha eine Diebin war? Es im Laufe dieser Nacht entdeckt? »Du hast sie also … gefeuert?«
»Musste sein«, sagt Bennie. »Nach zwölf Jahren. Sie war wie die andere Hälfte meines Gehirns. Genau genommen drei Viertel.«
»Hast du eine Ahnung, was sie jetzt macht?«
»Nicht die geringste. Ich glaube, ich wüsste es, wenn sie noch in der Branche wäre. Oder vielleicht auch nicht.« Er lachte. »Ich war ja auch ziemlich draußen.«
Sie gingen mehrere Minuten lang schweigend weiter. Auf den Straßen der Lower East Side war es still wie auf dem Mond. Bennie schien mit der Erinnerung an Sasha beschäftigt zu sein. Er bog plötzlich auf die Forsyth ab, ging ein Stück weiter und blieb stehen. »Hier«, sagte er und schaute an einem alten Mietshaus hoch, dessen fluoreszierend beleuchtetes Foyer hinter mattiertem Plexiglas zu sehen war. »Da hat Sasha gewohnt.«
Alex schaute an dem Gebäude hoch, das sich rußig vor dem lavendelfarbenen Himmel abhob, und auf einmal blitzte heiß-kalt in ihm die Erkenntnis auf, das Beben eines Déjà-vus, als kehre er an einen Ort zurück, der nicht mehr existierte.
»Weißt du noch, in welcher Wohnung?«, fragte er.
»4 F, glaube ich«, sagte Bennie. Und dann, gleich darauf: »Mal nachsehen, ob sie zu Hause ist?«
Er grinste, und dieses Grinsen ließ ihn jung aussehen, sie waren Mitverschwörer, dachte Alex, sie lauerten vor der Wohnung eines Mädchens, er und Bennie Salazar.
»Heißt sie mit Nachnamen Taylor?«, fragte Alex mit einem Blick auf das handgeschriebene Schild neben der Klingel. Auch er grinste.
»Nein, aber das könnte eine Mitbewohnerin sein.«
»Ich klingle mal«, sagte Alex.
Er beugte sich zur Klingel vor, jedes Elektron in seinem Körper sehnte sich diese trübe beleuchtete steile Treppe hoch, an die er sich jetzt so deutlich erinnerte, als hätte er Sashas Wohnung erst am selben Morgen verlassen. Er folgte der Treppe in Gedanken, bis er sich selbst in einer engen kleinen Wohnung antraf – viel Lila und Grün –, die feucht nach heißem Dampf und Duftkerzen roch. Das Zischen eines Heizkörpers. Kleine Gegenstände auf den Fensterbänken. Eine Badewanne in der Küche – ja, so eine hatte sie gehabt. Es war die einzige, die er je gesehen hatte.
Bennie stand dicht neben Alex, und sie warteten zusammen, gespannt in derselben heiklen Erregung. Alex merkte, wie er den Atem anhielt. Würde Sasha sie reinlassen, und würden er und Bennie diese Treppe zu ihrer Tür hochsteigen? Würde Alex sie erkennen, und würde sie ihn erkennen? Und in diesem Moment bekam die Sehnsucht, die er nach Sasha verspürt hatte, endlich deutliche Konturen: Alex stellte sich vor, wie er in ihre Wohnung ging und wie er sich noch immer dort vorfand – sein junges Selbst, voller Pläne und hoher Maßstäbe, und noch wäre nichts entschieden. Diese Fantasie flößte ihm eine überschwängliche Hoffnung ein. Er drückte wieder auf die Klingel, und als weitere Sekunden vergingen, spürte Alex, wie etwas ihm mit einem stärker werdenden bohrenden Gefühl verloren ging. Diese ganze idiotische Farce brach in sich zusammen und flog davon.
»Sie ist nicht da«, sagte Bennie. »Ich wette, sie ist weit weg.« Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel hoch. »Ich hoffe, sie hat ein gutes Leben gefunden«, sagte er endlich. »Das hat sie verdient.«
Sie gingen weiter. Alex hatte ein Stechen in Augen und Hals. »Ich weiß nicht, was mir passiert ist«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es ehrlich nicht.«
Bennie sah ihn an, ein Mann mittleren Alters mit chaotischer Silbermähne und nachdenklichen Augen. »Du bist erwachsen geworden, Alex«, sagte er. »Genau wie wir anderen.«
Alex schloss die Augen und lauschte: Ein Ladengitter glitt herab. Ein Hund bellte heiser. Lastwagen dröhnten über die Brücke. Die samtene Nacht in seinen Ohren. Und das Summen, immer dieses Summen, das vielleicht gar kein Echo war, sondern der Klang der vergehenden Zeit.
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