Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
Vom Netzwerk:
überzog ihr Gesicht so plötzlich, dass es Alex vorkam wie ein gewaltsames Ereignis, als ersticke sie oder stehe kurz vor einem Blutsturz. Er setzte sich wie aus einem Reflex heraus auf und sah nach Cara-Ann. Er stellte fest, dass ihre Augen weit geöffnet waren.
    »Sie haben recht«, sagte Lulu und holte zitternd Atem. »Entschuldigung.«
    »Keine Panik«, sagte Alex. Lulus Erröten hatte ihn mehr aus dem Konzept gebracht als ihr Selbstvertrauen. Er sah zu, wie es sich aus ihrem Gesicht zurückzog und ihre Haut knallweiß hinterließ. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er.
    »Mir geht’s gut. Das viele Reden ermüdet mich nur.«
    »Geht mir auch so«, sagte Alex. Er war ganz erschöpft.
    »Es gibt so viele Möglichkeiten, es falsch zu machen«, sagte Lulu. »Wir haben nur Metaphern, und sie passen nie richtig. Man kann nie einfach sagen: So. Ist. Das.«
    »Is die da?«, fragte Cara-Ann und starrte Lulu an.
    »Das ist Lulu.«
    »Kann ich Sie nicht einfach antexten?«
    »Du meinst …?«
    »Jetzt? Darf ich Ihnen ein T schicken?« Die Frage war reine Formsache, sie war schon mit ihrem Smartpad beschäftigt. Gleich darauf vibrierte Alex’ eigenes in seiner Hosentasche. Er musste Cara-Ann anders legen, um es zu erreichen.
    HättN sie namN fü mi? , las er auf dem Display. k1 pr, gab Alex ein und ließ die Liste von fünfzig Kontaktpersonen zusammen mit Anmerkungen, Tipps für die Herangehensweise und individuellen Tabus in Lulus Smartpad fließen.
    Super. Ich leg los.
    Sie schauten einander an. »Ging doch«, sagte Alex.
    »Ich weiß«, sagte Lulu. Sie sah vor Erleichterung fast schläfrig aus. »Das ist unverfälscht, rein – keine Philosophie, keine Metaphern, keine Urteile.«
    »Ham«, sagte Cara-Ann. Sie zeigte auf Alex’ Smartpad, das er ohne nachzudenken nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt benutzt hatte.
    »Nein«, sagte er, plötzlich besorgt. »Wir … wir müssen los.«
    »Warten Sie«, sagte Lulu und schien Cara-Ann erst jetzt zu bemerken. »Ich texte sie an.«
    »Äh, wir wollen nicht …«, aber Alex fühlte sich nicht in der Lage, seine mit Rebecca geteilten Überzeugungen zu Kindern und Smartpads zu erklären. Und jetzt vibrierte sein eigenes wieder. Cara-Ann kreischte vor Entzücken und bohrte ihren molligen Zeigefinger in den Bildschirm. »Ich da«, teilte sie ihm mit.
    Hast 1 nettN dad, kl1, las Alex pflichtbewusst vor, und sofort wurde sein eigenes Gesicht von Röte überzogen. Cara-Ann schlug mit der hektischen Glut eines hungrigen Hundes, der in einem Fleischlager losgelassen worden ist, auf die Tasten ein. Jetzt erschien ein Blubby, eines der üblichen Bilder, die man Kindern schicken konnte: ein Löwe unter einer strahlenden Sonne. Cara-Ann zoomte unterschiedliche Teile des Löwen heran, als ob sie seit ihrer Geburt nichts anderes getan hätte. Lulu textete: Hab m1 dad nie GtroffN. Vor m1R Gburt † . Alex las das nicht vor.
    »Ach, tut mir leid«, sagte er und sah zu Lulu hoch, aber seine Stimme wirkte zu laut – grob herausgeplatzt. Er senkte den Blick, und durch das wilde Gefuchtel von Cara-Anns zeigenden Fingern konnte er texten: Traurig.
    Ewig hR, war Lulus Antwort .
    » Das meins«, gurrte Cara-Ann entrüstet, reckte sich aus dem Tragetuch und bohrte ihren Zeigefinger in Alex’ Tasche. Dort vibrierte das Smartpad – fast ununterbrochen, seit er und Cara-Ann Stunden zuvor das Restaurant verlassen hatten. War es möglich, dass seine Tochter die Schwingungen durch seinen Körper hindurch spüren konnte?
    »Lollipop meins!« Alex wusste nicht, wie sie auf diesen Namen für das Smartpad gekommen war, aber er wollte ihr natürlich auf keinen Fall den richtigen sagen.
    »Was möchtest du, Schnuffel?«, fragte Rebecca in der betütelnden Art, in der sie (fand Alex) ihre Tochter oft anredete, wenn sie den ganzen Tag bei der Arbeit gewesen war.
    »Daddy Lolli.«
    Rebecca sah Alex misstrauisch an. »Hast du einen Lolli?«
    »Natürlich nicht.«
    Sie eilten nach Westen, um den Fluss vor dem Sonnenuntergang zu erreichen. Die mit der Erwärmung verbundenen »Anpassungen« an die Erdumlaufbahn hatten die Wintertage verkürzt, so dass die Sonne jetzt, im Januar, um 16:23 unterging.
    »Kann ich sie nehmen?«, fragte Rebecca.
    Sie nahm Cara-Ann aus dem Tragetuch und stellte sie auf den rußigen Bürgersteig. Die Kleine machte einige ihrer unsicheren Schritte und ruderte dabei mit den Armen. »Wenn wir sie laufen lassen, verpassen wir’s noch«, sagte Alex, und Rebecca hob sie hoch und

Weitere Kostenlose Bücher