Der größere Teil der Welt - Roman
Scottys Gesicht. Schließlich spielt er mit geschlossenen Augen weiter, und ich frage mich, ob er die Schlieren vor sich sieht. Alice versucht, die Müllschmeißer anzugreifen, und plötzlich sind die Leute heftig mit Pogen beschäftigt, der Art, die im Grunde ein Kampf ist. Joel prügelt auf sein Schlagzeug ein, während Scotty sich das triefnasse T-Shirt herunterreißt und einen der Müllschmeißer damit verprügelt, er schlägt es dem Typen mit einem scharfen Knall voll ins Gesicht und dann noch einem anderen – zack –, wie meine Brüder, wenn sie sich mit Handtüchern schlagen, nur härter. Scottys Anziehungskraft entfaltet schließlich ihre Wirkung – die Leute starren seine bloßen, vor Schweiß und Bier glänzenden Muskeln an. Dann versucht einer der Müllschmeißer, die Bühne zu stürmen, aber Scotty tritt ihm mit der Stiefelsohle vor die Brust – die Menge schnappt nach Luft, als der Typ zurückfliegt. Scotty lächelt jetzt, er grinst auf eine merkwürdige Art, seine Wolfszähne leuchten, und mir wird klar, dass von uns allen hier Scotty die meiste Wut in sich hat.
Ich drehe mich zu Jocelyn um, aber sie ist verschwunden. Vielleicht befehlen mir meine vielen neuen Augen, nach unten zu schauen. Ich sehe, wie sich Lous Finger in ihre schwarzen Haare krallen. Sie kniet vor ihm und bläst ihm einen, als sei die Musik eine Verkleidung und niemand könne sie sehen. Vielleicht sieht sie tatsächlich keiner. Lou hat den anderen Arm um meine Schultern gelegt. Obwohl ich weglaufen könnte, rühre ich mich nicht vom Fleck, während Lou Jocelyns Kopf an sich presst, wieder und wieder, ich weiß nicht, wie sie dabei atmen kann, es kommt mir vor, als sei sie nicht mehr Jocelyn, sondern ein Tier oder eine Maschine. Ich zwinge mich dazu, der Band zuzusehen, Scotty schlägt mit seinem nassen T-Shirt nach den Leuten und tritt sie mit den Stiefeln. Lou packt meine Schulter und drückt sie fester, dreht seinen Kopf zu meinem Hals hin und stößt ein heiseres Stöhnen aus, das ich sogar durch die Musik hindurch höre, so dicht steht er neben mir. In mir entsteht ein Schluchzen. Tränen sickern aus meinen Augen, aber nur den beiden in meinem Gesicht. Die anderen tausend Augen sind geschlossen.
Die Wände von Lous Wohnung sind voll mit elektrischen Gitarren und goldenen und silbernen Schallplatten, genau wie Jocelyn gesagt hat. Aber sie hat nicht erwähnt, dass die Wohnung im fünfunddreißigsten Stock liegt, sechs Straßenzüge entfernt vom Mab, und dass der Fahrstuhl mit grünem Marmor getäfelt ist. Da hat sie einiges ausgelassen.
In der Küche schüttet Jocelyn Chips in eine Schüssel und nimmt eine Glasschüssel mit grünen Äpfeln aus dem Kühlschrank. Sie hat schon Mantrax herumgereicht und allen angeboten, nur mir nicht. Ich glaube, sie hat Angst davor, mich anzusehen. Wer ist jetzt die Gastgeberin?, möchte ich fragen.
Im Wohnzimmer sitzt Alice bei Scotty, der ein kariertes Pendletonhemd aus Lous Schrank trägt und weiß und zittrig aussieht, vielleicht, weil er mit Müll beworfen worden ist, vielleicht, weil er jetzt wirklich kapiert, dass Jocelyn einen Freund hat und dass er selbst weder jetzt noch später an dessen Stelle sein wird. Marty ist auch da, er hat eine Wunde auf der Wange und ein fast blaues Auge und sagt immer wieder, das war stark, an niemand Bestimmten gerichtet. Joel wurde natürlich sofort nach Hause gefahren. Alle finden, dass der Gig gut gelaufen ist.
Als Lou Bennie sein Tonstudio zeigt, das über eine Wendeltreppe zu erreichen ist, trotte ich hinterher. Er nennt Bennie »Kleiner« und erklärt ihm jeden Apparat in dem Raum, der klein und warm ist und dessen Wände mit schwarzem Schaumstoff ausgekleidet sind. Lou läuft pausenlos umher und isst dabei laut knackend einen grünen Apfel, es klingt, als zerkaue er Steine. Bennie schaut aus der Tür, um über das Geländer einen Blick ins Wohnzimmer auf Alice erhaschen zu können. Ich bin die ganze Zeit kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich habe Angst, das, was im Club passiert ist, könnte als Sex mit Lou zählen – weil ich mit dabei war.
Schließlich gehe ich wieder nach unten. Neben dem Wohnzimmer sehe ich eine halb geöffnete Tür, dahinter steht ein großes Bett. Ich gehe hinein und lege mich mit dem Gesicht nach unten auf eine Tagesdecke aus Samt. Ein scharfer Geruch nach Räucherstäbchen hüllt mich ein. Das Zimmer ist kühl und dunkel, und auf beiden Seiten des Bettes stehen gerahmte Bilder. Mein ganzer Körper tut weh. Nach
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