Der größere Teil der Welt - Roman
Sasha hat ihren Rucksack auf und will in die Bibliothek.
»Zum Glück«, sagst du. »Endlich weg.« Du kannst offenbar nicht aufhören, in Sätzen aus zwei Wörtern zu reden, so gern du das auch tätest.
»Sehr freundlich«, stellt Sasha fest.
»War’n Witz. Toller Typ.«
»Weiß ich.«
Dein Trip lässt nach, und da, wo dein Kopf sein sollte, ist jetzt nicht mehr als ein Karton voller Fusseln. High zu werden ist für dich was Neues – dass du nie high geworden bist, war der einzige Grund, warum du Sasha am Infotag für die Collegeanfänger im vorigen Jahr auf dem Washington Square aufgefallen bist. Sie stand vor dir mit ihren hennaroten Haaren in der Sonne, ihre lebhaften Augen sahen dich eher von der Seite aus an als von vorn. »Ich brauche dringend jemanden, der so tut, als wäre er mein Freund«, sagte sie. »Würdest du das übernehmen?«
»Was ist mit deinem echten?«, fragtest du.
Sie setzte sich neben dich und erklärte es dir: Auf der Highschool, zu Hause in L.A. , war sie mit dem Drummer einer Band durchgebrannt, von der du noch nie gehört hattest, sie hatte das Land verlassen und war allein durch Europa und Asien gereist – und hatte nicht einmal die Schule beendet. Jetzt fing sie mit fast einundzwanzig das College an. Ihr Stiefvater hatte sämtliche Strippen gezogen, um ihr diesen Studienplatz zu besorgen. In der vergangenen Woche hatte er ihr mitgeteilt, er habe einen Detektiv angeheuert, um sicherzustellen, dass sie auch allein in New York »auf dem rechten Weg« blieb. »Gerade jetzt könnte irgendwer mich überwachen«, sagte sie und schaute über den Platz mit den vielen jungen Leuten hinweg, die einander allesamt zu kennen schienen. »Es kommt mir echt so vor.«
»Soll ich vielleicht den Arm um dich legen?«
»Ja bitte.«
Du hast irgendwo mal gehört, dass man sich glücklicher fühlt, wenn man lächelt; als du den Arm um Sasha legtest, wolltest du sie auf einmal beschützen. »Warum ich?«, fragtest du. »Nur so aus Neugier.«
»Du bist nett«, sagte sie. »Und du siehst nicht zugedröhnt aus.«
»Ich bin Footballspieler«, sagtest du. »War ich.«
Ihr musstet Bücher kaufen, du und Sasha, ihr seid zusammen losgegangen. Du hast Sasha im Wohnheim besucht, wo du Lizzie, ihre Mitbewohnerin, dabei erwischt hast, wie sie hinter deinem Rücken das Daumen-rauf-Zeichen gab. Um halb sechs habt ihr eure Mensatabletts vollgeladen, und du hast beim Spinat zugeschlagen, weil alle behaupten, dass Footballmuskeln sich in Gelee verwandeln, wenn man aufhört zu spielen. Ihr habt beide eure Bibliotheksausweise bekommen, seid zurück in eure Wohnheime gegangen und habt euch dann um acht an der Bar vom Apple getroffen. Es war gerammelt voll mit Studenten. Sasha blickte sich immer wieder um, und du bist davon ausgegangen, dass sie nach dem Detektiv Ausschau hielt, deshalb hast du den Arm um sie gelegt und sie von der Seite aufs Gesicht und das Haar geküsst, das irgendwie versengt roch, und dass alles nur gespielt war, ließ dich so entspannt sein, wie es dir zu Hause mit Mädchen nie gelungen war. Worauf Sasha Schritt 2 erklärte: Ihr müsstet beide dem Gegenüber etwas erzählen, das es für euch unmöglich machen würde, jemals wirklich zusammen zu sein.
»Hast du das schon mal gemacht?«, fragtest du, ungläubig.
Sie hatte zwei Weißwein intus (wobei du zwei zu eins mit Bier mitgehalten hattest) und fing mit dem dritten Glas an. »Natürlich nicht.«
»Also … und wenn ich dir sage, dass ich früher Kätzchen gefoltert habe, dann willst du nicht mehr mit mir ins Bett hüpfen?«
»Hast du das?«
»Ach Quatsch.«
»Ich zuerst«, sagte Sasha.
Sie hatte mit dreizehn zusammen mit ihren Freundinnen die ersten Ladendiebstähle begangen, hatte mit Perlen besetzte Kämme und glitzernde Ohrringe in ihren Ärmeln versteckt, um herauszufinden, wer mehr erbeuten konnte, aber bei Sasha war es etwas anderes – es durchfuhr sie dabei glühend heiß am ganzen Körper. Später in der Schule ging sie dann jeden Schritt so einer Eskapade durch, und sie zählte die Tage, bis sie es wieder tun konnte. Die anderen Mädchen taten es wegen des Nervenkitzels und um sich zu übertrumpfen, und Sasha musste sich alle Mühe geben, um ihre wahre Motivation nicht zu verraten.
In Neapel stahl sie, wenn ihr das Geld ausging, Gegenstände aus Läden und verkaufte sie an Lars aus Schweden, und dann wartete sie auf seinem Küchenboden mit anderen hungrigen Jugendlichen, die Brieftaschen von Touristen, Modeschmuck oder
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