Der größere Teil der Welt - Roman
Luft. In Wisconsin hat Drew mit Pfeil und Bogen einen Elch erlegt, hat ihn gehäutet, das Fleisch zerteilt und auf Schneeschuhen im Rucksack nach Hause getragen. Vielleicht war das ja auch ein Witz. Er und seine Brüder haben mit bloßen Händen eine Blockhütte gebaut. Er ist an einem See aufgewachsen, und jeden Morgen, sogar im Winter, ist Drew darin schwimmen gewesen. Jetzt trainiert er im Schwimmbad der NYU , aber das Chlor tut seinen Augen weh, und wenn man ein Dach über dem Kopf hat, ist es nicht dasselbe, sagt er. Aber er geht dort trotzdem oft schwimmen, vor allem, wenn er verkatert oder angespannt oder mit Sasha zerstritten ist. »Dann bist du sicher mit Schwimmen groß geworden«, sagte er, als er hörte, dass du aus Florida kommst, und du sagtest, Natürlich, aber in Wirklichkeit hast du Wasser noch nie ausstehen können, und nur Sasha weiß das über dich.
Du lässt dich von der Feuerleiter zum anderen Ende der Plattform herunter, wo man durch ein Fenster in den kleinen Alkoven schauen kann, in dem Bix’ Computer steht. Bix hockt davor mit seinen zigarrendicken Dreadlocks und schreibt Mitteilungen an Kommilitonen, die sie dann an ihren Computern lesen, und liest ihre Antworten. Bix behauptet, dass diese Mitteilungsverschickerei per Computer eine RIESENSACHE werden wird – viel mehr noch als das Telefon. Er ist ganz groß im Weissagen, und du hast ihn auch nicht ernsthaft provoziert – vielleicht, weil er älter ist, vielleicht, weil er schwarz ist.
Als er dich in deinen schlabberigen Jeans und deinem Footballtrikot, das du jetzt aus irgendeinem Grund wieder trägst, vor seinem Fenster sieht, schreckt Bix auf. »Scheiße, Rob«, sagt er. »Was machst du denn da draußen?«
»Dir zuschauen.«
»Du hast Lizzie total gestresst.«
»Tut mir leid.«
»Dann komm rein und sag es ihr.«
Du steigst durch Bix’ Fenster hinein. Genau über seinem Schreibtisch hängt ein Plakat vom Jüngsten Gericht, aus der Kathedrale von Albi. Du erinnerst dich daran aus deinem Einführungsseminar in Kunstgeschichte im vergangenen Jahr, einem Seminar, das dir so gut gefallen hat, dass du außer BWL noch Kunstgeschichte belegt hast. Du fragst dich, ob Bix vielleicht religiös ist.
Im Wohnzimmer sitzen Sasha und Lizzie auf dem Futon und machen finstere Gesichter. Drew sitzt noch immer draußen auf der Feuerleiter.
»Tut mir leid«, sagst du zu Lizzie.
»Ist schon gut«, sagt sie, und du weißt, du solltest es dabei belassen, es ist in Ordnung, belass es dabei, aber irgendein verrückter Motor treibt dich an. »Es tut mir leid, dass deine Mom so scheinheilig ist. Es tut mir leid, dass Bix eine Freundin aus Texas haben muss. Es tut mir leid, dass ich ein Arschloch bin. Es tut mir leid, dass ich dich nervös mache, weil ich Selbstmord begehen wollte. Es tut mir leid, dass ich dir einen netten Nachmittag versaut habe …« Du hast einen Kloß im Hals, und deine Augen werden feucht, als du siehst, wie ihre Gesichter sich von steinern in traurig verwandeln, und es ist ungeheuer rührend und süß, nur dass du nicht ganz da bist – ein Teil von dir steht ein paar Meter weiter entfernt oder drüber und denkt, alles klar, sie werden dir verzeihen, sie werden dich nicht im Stich lassen, und die Frage ist, wer von beiden ist wirklich »du«, der, der irgendwas sagt oder tut, oder der, der dabei zusieht?
Du verlässt die Wohnung von Bix und Lizzie zusammen mit Sasha und Drew und ihr geht nach Westen, in Richtung Washington Square. In den Narben an deinem Handgelenk zuckt es kalt. Sasha und Drew sind zu einem Zopf aus Ellbogen, Schultern und Taschen verschlungen, weshalb ihnen vermutlich wärmer ist als dir. Als du zu Hause in Tampa warst, um wieder auf die Füße zu kommen, sind sie mit dem Greyhound nach Washington D.C . zur Amtseinführung gefahren und die ganze Nacht aufgeblieben und haben den Sonnenaufgang über der Mall gesehen, und dabei (sagen sie beide) hatten sie das Gefühl, dass die Welt sich direkt vor ihrer Nase veränderte. Du hast höhnisch gelacht, als Sasha dir das erzählt hat, aber seither ertappst du dich immer wieder dabei, wie du auf der Straße Fremden ins Gesicht blickst und dich fragst, ob sie das auch empfinden: eine Veränderung, die mit Bill Clinton zu tun hat, oder etwas noch Größeres, das überall ist – in der Luft, im Boden – sichtbar für alle, nur nicht für dich.
Am Washington Square verabschiedest du dich mit Sasha von Drew, der schwimmen gehen und sich das Dope aus dem Kopf spülen will.
Weitere Kostenlose Bücher