Der größere Teil der Welt - Roman
verfallenen Palazzi herumlungerten, wo ihre Vorfahren im fünfzehnten Jahrhundert im Luxus gelebt hatten, und die sich auf den Treppen von Kirchen, in deren Krypten diese Vorfahren jetzt in winzigen, wie Klafterholz gestapelten Särgen lagen, ihren Schuss setzten. Ted scheute vor diesen Jugendlichen zurück, obwohl er über eins neunzig war, über hundertfünf Kilo wog und ein Gesicht hatte, das im Badezimmerspiegel harmlos genug aussah, das seine Kollegen aber oft zu der Frage veranlasste, was denn los sei. Er fürchtete, Sasha könne bei diesen Jugendlichen sein – dass sie ihn in dem nach Einbruch der Dunkelheit über Neapel liegenden gelblichen Laternenlicht beobachtete. Bis auf eine Kreditkarte und ein Minimum an Bargeld hatte er seine Brieftasche leer gemacht. Eilig verließ er die Piazza und machte sich auf die Suche nach einem Restaurant.
Mit siebzehn war Sasha abgehauen, das war zwei Jahre her.
Abgehauen wie ihr Vater, Andy Grady, ein wild gewordener Kapitalist mit lila Augen, der sich ein Jahr nach seiner Scheidung von Beth vor den Gläubigern eines geplatzten Geschäfts aus dem Staub gemacht hatte und niemals wieder von sich hören ließ. Sasha war ab und zu wieder aufgetaucht, hatte aus weit entfernten Orten telegrafische Geldüberweisungen verlangt, und zweimal waren Beth und Hammer sonst wohin geflogen und hatten vergeblich versucht, sie abzufangen. Sasha war einer Jugend entflohen, während derer sie alles mitgemacht hatte: Drogenkonsum, zahllose Festnahmen wegen Ladendiebstahls, eine Vorliebe für die Gesellschaft von Rockmusikern (Beth hatte sie aus lauter Hilflosigkeit deswegen angezeigt), vier Psychiater, Familientherapie, Gruppentherapie und drei Selbstmordversuche. All das hatte Ted aus der Ferne mit einem Entsetzen beobachtet, das sich irgendwann mit Sasha selbst verband. Als kleines Mädchen war sie reizend gewesen – bezaubernd geradezu –, er wusste das noch aus einem Sommer, den er bei Beth und Andy in ihrem Haus am Michigansee verbracht hatte. Aber als Ted sie gelegentlich zu Weihnachten oder Thanksgiving sah, hatte sie sich längst in eine übellaunige Gestalt verwandelt, und er hatte seine Söhne von ihr ferngehalten, aus Angst, Sashas Selbstzerstörung könne auf die Jungen irgendwie abfärben. Er wollte nichts mit Sasha zu tun haben. Sie war verloren.
Am nächsten Morgen stand Ted früh auf und fuhr mit einem Taxi zum Museo Nazionale: Es war kühl, leer und hallend, ohne Touristen, obwohl es Frühling war. Er schlenderte zwischen den verstaubten Büsten von Hadrian und etlichen Cäsaren umher und fühlte sich in der Gegenwart von so viel Marmor in einer Weise, die an Erotik grenzte, physisch belebt. Er ahnte die Nähe von Orpheus und Eurydike, noch ehe er die Darstellung sah, fühlte sich von ihrem kühlen Gewicht durch den ganzen Raum hindurch angezogen, ließ sich aber absichtlich Zeit, ehe er davortrat, indem er sich die Ereignisse, die vor dem dort dargestellten Augenblick lagen, in Erinnerung rief: Orpheus und Eurydike verliebt und frisch verheiratet, Eurydike, die auf der Flucht vor den Nachstellungen eines Schäfers an einem Schlangenbiss stirbt, Orpheus, der in die Unterwelt hinabsteigt und deren feuchtkalte Gänge mit der Musik seiner Leier füllt, während er von der Sehnsucht nach seiner Frau singt, Pluto, der bereit ist, Eurydike freizulassen, unter der einzigen Bedingung, dass Orpheus sich während des Aufstiegs nicht nach ihr umsieht. Und dann der unselige Augenblick, da Orpheus sich aus Angst um seine im Gang stolpernde Frau vergisst und nach ihr umdreht.
Ted trat auf das Relief zu und war sofort mittendrin, so vollständig fühlte er sich davon berührt und umschlossen. Es war der Moment, ehe Eurydike zum zweiten Mal in die Unterwelt hinabsteigen muss, der Moment, als sie und Orpheus Abschied nehmen. Was Ted bewegte, was gleichsam zarte Gläser in seiner Brust zerschlug, war die Ruhe ihres Abschieds, das Fehlen von Dramatik oder Tränen, während sie einander ansahen und sich sanft berührten. Er spürte ein Verständnis zwischen ihnen, das zu tief war, um in Worte gefasst zu werden, die unaussprechliche Erkenntnis, dass alles verloren ist.
Eine halbe Stunde lang versenkte sich Ted hingerissen in das Relief. Er entfernte sich ein Stückchen und kam wieder näher. Er verließ den Saal und kehrte zurück. Jedes Mal erwartete ihn dasselbe Erlebnis: eine flimmernde Erregung, wie er sie seit Jahren nicht mehr als Reaktion auf ein Kunstwerk empfunden hatte, wobei die
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