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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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geschmeidige Anpassungsfähigkeit des menschlichen Geistes steigerte, wurde ihm dadurch auch klar, dass seine Frau einer Gehirnwäsche unterzogen worden war. Und zwar von ihm.
    »Schatz«, sagte Susan. »Alfred möchte mit dir sprechen.«
    Ted machte sich gefasst auf seinen launischen, unvorhersehbaren Sohn. »Hallöchen, Alf, wie geht’s denn so.«
    »Dad, nicht diese Stimme.«
    »Was für eine Stimme?«
    »Diese Pseudo-›Dad‹-Stimme.«
    »Was willst du von mir, Alfred? Können wir ein vernünftiges Gespräch führen?«
    »Wir haben verloren.«
    »Also steht’s jetzt wie viel, fünf zu acht?«
    »Vier zu neun.«
    »Na dann ist ja noch Zeit.«
    »Es ist keine Zeit«, sagte Alfred. »Die Zeit ist um.«
    »Ist deine Mutter noch da?«, fragte Ted mit einem Anflug von Verzweiflung. »Kannst du sie mir noch mal geben?«
    »Miles möchte mit dir reden.«
    Ted sprach mit seinen beiden anderen Söhnen, die weitere Sportergebnisse zu berichten hatten. Er kam sich vor wie ein Buchmacher. Sie betrieben alle vorstellbaren Sportarten und einige, die (für Ted) nicht vorstellbar waren: Fußball, Hockey, Baseball, Lacrosse, Basketball, Football, Fechten, Ringen, Tennis, Skateboarding (kein Sport!), Golf, Tischtennis, Video Voodoo (keinesfalls ein Sport, und Ted weigerte sich, es zu erlauben), Klettern, Inlineskaten, Bungeespringen (Miles, sein Ältester, dem Ted eine fröhliche Bereitschaft zur Selbstzerstörung unterstellte), Backgammon (kein Sport!), Volleyball, Wiffleball, Rugby, Cricket (in welchem Land waren sie hier eigentlich?), Squash, Wasserpolo, Ballett (Alfred natürlich) und seit Neuestem Taekwondo. Manchmal hatte Ted den Eindruck, dass seine Söhne nur Sport trieben, um sich seine Anwesenheit am Rand der größtmöglichen Menge von Spielfeldern zu sichern. Pflichtbewusst trat er an und ließ seine Stimme aus Haufen toter Blätter und im scharfen Holzrauch im Herbst, zwischen knallgrünem Klee im Frühling und in den schwülen, von Moskitos gesprenkelten Sommern des Staates New York erschallen.
    Nachdem er mit seiner Frau und seinen Söhnen gesprochen hatte, fühlte sich Ted betrunken und musste dringend das Hotel verlassen, dabei trank er nur selten. Alkohol warf einen Schleier aus Erschöpfung über seinen Kopf und stahl ihm die wenigen kostbaren Stunden – zwei, vielleicht drei nach dem Abendessen mit Susan und den Söhnen –, in denen er über Kunst nachdenken und schreiben konnte. Im Grunde sollte er zu jeder Tageszeit über Kunst nachdenken und schreiben, aber eine Kombination verschiedener Faktoren ließ dieses Denken und Schreiben unnötig werden (er arbeitete an einem drittklassigen College ohne großen Druck zu veröffentlichen) und zugleich unmöglich (er unterrichtete in jedem Semester drei Kunstgeschichtsseminare und hatte einen Haufen Verwaltungsaufgaben übernommen – er brauchte Geld). Denken und Schreiben fanden in einem kleinen Arbeitszimmer statt, das in eine Ecke seines heruntergekommenen Hauses gequetscht war und an dessen Tür er ein Schloss angebracht hatte, um seine Söhne auszusperren. Die versammelten sich sehnsuchtsvoll vor dieser Tür, seine Jungen mit ihren vergrämten, herzzerreißenden Gesichtern. Sie durften nicht einmal an die Tür des Raumes klopfen, in dem er über Kunst nachdachte und schrieb, aber Ted hatte keine Möglichkeit gefunden, um sie am Herumlungern zu hindern, gespenstische streunende Wesen, die im Mondlicht aus einem Teich tranken, ihre bloßen Zehen in den Teppich gruben und deren Finger an den Wänden schwitzten und Fettflecke hinterließen, die Ted jede Woche Elsa, der Putzfrau, zeigte. Immer wenn er in seinem Arbeitszimmer saß, lauschte er den Bewegungen seiner Jungen und stellte sich vor, ihren heißen, neugierigen Atem spüren zu können. Ich lasse sie nicht rein, sagte er sich immer wieder. Ich will hier sitzen und über Kunst nachdenken. Aber zu seiner Verzweiflung stellte er fest, dass er oft nicht über Kunst nachdenken konnte. Er dachte über rein gar nichts nach.
    In der Abenddämmerung schlenderte Ted durch die Via Partenope zur Piazza Vittoria. Dort wimmelte es von Familien, Kinder traten nach den allgegenwärtigen Fußbällen und tauschten Salven von ohrenbetäubendem Italienisch aus. Aber es gab in dem schwindenden Licht auch noch eine andere Präsenz: die ziellosen, bedrohlich wirkenden Jugendlichen, die sich in dieser Stadt mit ihrer Arbeitslosenrate von dreiunddreißig Prozent herumtrieben, Angehörige einer entrechteten Generation, die um die

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