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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Kind sie in die Länge zog, um Zeit zu schinden, um sie beide davon abzulenken, was sich womöglich im Haus abspielte. Und das ließ sie viel älter wirken als sie wirklich war, eine winzige kleine Frau, wissend, lebensüberdrüssig, die die Bürden der Welt so sehr akzeptierte, dass sie sie nicht einmal mehr erwähnte. Sie spielte nie auf ihre Eltern an oder darauf, wovor Ted und sie sich an diesem Ufer versteckten.
    »Gehst du mit mir schwimmen?«
    »Natürlich«, sagte er jedes Mal.
    Erst dann erlaubte er ihr, das schützende Hütchen abzunehmen. Ihre Haare waren lang und seidig, und während er Sasha (wie sie das immer wollte) in den Michigansee trug, wurden sie ihm ins Gesicht geweht. Sie umschlang ihn mit ihren dünnen Beinen und Armen, die von der Sonne warm waren, und legte ihm den Kopf an die Schulter. Ted spürte ihre wachsende Furcht, als sie sich dem Wasser näherten, aber sie weigerte sich, ihn umkehren zu lassen. »Nein. Ist schon gut. Weiter«, murmelte sie verbissen an seinem Hals, als sei das Untertauchen im Michigansee eine Prüfung, die sie um eines höheren Zieles willen ertragen müsste. Ted versuchte auf allerlei Weisen, es leichter für sie zu machen – indem er Stück für Stück hineinging oder sich gleich fallen ließ –, aber immer keuchte Sasha vor Schmerzen auf, und ihre Arme und Beine umschlangen ihn noch fester. Wenn es vorüber war, wenn sie es ins Wasser geschafft hatten, war sie wieder sie selbst, vertieft ins Hundepaddeln, trotz seiner Bemühungen, ihr das Kraulen beizubringen. (»Ich kann schwimmen«, sagte sie dann ungeduldig. »Ich will nur nicht!«) Sie spritzte ihn nass, tapfer mit den Zähnen klappernd. Aber der ganze Prozess brachte Ted aus dem Konzept, als täte er ihr weh, als zwänge er seine Nichte zu diesem Bad, wo er sie doch in Wirklichkeit retten wollte oder zumindest davon träumte, wie er sie in eine Decke wickeln und sie heimlich vor Anbruch der Dämmerung aus dem Haus schmuggeln, mit einem alten Ruderboot, das er gefunden hatte, davonfahren, sie zum Ufer hinuntertragen und nicht zurückblicken würde. Er war fünfundzwanzig. Er vertraute sonst niemandem. Aber er konnte wirklich nichts unternehmen, um seine Nichte zu beschützen, und während die Wochen verstrichen, sah er das Ende des Sommers wie ein schwarzes Ungeheuer auf sich zukommen. Doch als es dann so weit war, ging alles seltsam leicht. Sasha klammerte sich an ihre Mutter, sie würdigte Ted, der seinen Wagen vollpackte und sich verabschiedete, kaum eines Blickes, und als er losfuhr, war er wütend auf sie und verletzt, obwohl er wusste, dass das kindisch war, aber er konnte offenbar nicht dagegen an, und als das Gefühl sich legte, war er erschöpft, sogar zum Fahren zu müde. Er hielt vor einem Dairy Queen-Restaurant und schlief ein.
    »Wie soll ich wissen, dass du schwimmen kannst, wenn du es mir nicht zeigen willst?«, fragte er einmal Sasha, als sie im Sand saßen.
    »Ich hatte Unterricht bei Rachel Constanza.«
    »Du beantwortest meine Frage nicht.«
    Sie lächelte ihn an, ein wenig hilflos, als sehne sie sich danach, sich hinter ihrer Kindlichkeit zu verstecken, und als wisse sie gleichzeitig, dass es dafür irgendwie schon zu spät war. »Sie hat eine Siamkatze namens Feder.«
    »Warum willst du nicht schwimmen?«
    »Ach, Onkel Teddy«, sagte sie in einer ihrer unheimlichen Imitationen ihrer Mutter. »Du bist mir zu anstrengend.«
    Sasha kam um acht Uhr in sein Hotel, sie trug ein kurzes rotes Kleid, schwarze Lacklederstiefel und zu viel Make-up, das ihr Gesicht zu einer grellen kleinen Maske verzerrte. Ihre eng stehenden Augen bogen sich wie Haken. Als Ted sie durch das Hotelfoyer erblickte, überfiel ihn ein Widerwille, der an Lähmung grenzte. Er hatte gemeinerweise gehofft, dass sie nicht kommen würde.
    Aber er raffte sich dennoch dazu auf, das Foyer zu durchqueren und ihren Arm zu nehmen. »Weiter oben in der Straße gibt es ein gutes Restaurant«, sagte er. »Falls du keinen anderen Vorschlag hast.«
    Hatte sie aber. Sie blies Rauch aus dem Taxifenster und redete in holprigem Italienisch auf den Fahrer ein, während der Wagen mit quietschenden Reifen durch Gassen und in der Gegenrichtung durch Einbahnstraßen nach Vomero hochfuhr, einer wohlhabenden Wohngegend, in der Ted bisher nicht gewesen war. Sie lag hoch oben auf einem Hügel. Noch ganz schwindelig bezahlte er den Fahrer und stand mit Sasha in einer Baulücke. Die flache, funkelnde Stadt breitete sich vor ihnen aus und streifte träge

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