Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918 (German Edition)
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg war in Deutschland lange Zeit durch die Kriegsschuldfrage geprägt, wenngleich in unterschiedlicher Ausformung: In den zwei Jahrzehnten nach 1919 bemühten sich die deutsche Öffentlichkeit und Politik, den Artikel 231 des Versailler Vertrags zurückzuweisen, der die Alleinschuld des Deutschen Reichs feststellte; in den Jahrzehnten nach der Fischer-Kontroverse hingegen wurde diese Schuld allgemein akzeptiert – auch in der Bundesrepublik und nicht nur in der DDR , wo dem Deutschen Reich immer eine erhebliche Mitschuld am Krieg zugewiesen worden ist, freilich mit dem Hinweis verbunden, dass nicht nur das Deutsche Reich eine imperialistische Politik betrieben habe. Insofern waren die Thesen Fritz Fischers, die den Deutschen die Hauptschuld am Krieg anlasteten, um einiges radikaler als die der offiziellen DDR -Historiographie. Erst in den letzten Jahren hat man in Deutschland die Perspektive erweitert und die Pläne und Aktionen, Annahmen und Ziele aller in den Krieg verwickelten Mächte miteinander verglichen und dabei nicht mehr bloß nach der «Schuld» gefragt, sondern nach der jeweiligen politischen und moralischen «Verantwortung» für den Kriegsausbruch und nach den Gründen für die lange Dauer des Konfliktes. Anstatt sich auf die vermeintlich sinisteren Absichten einzelner Akteure zu konzentrieren, wurden nun die Handlungen aller Beteiligten analysiert und ihre Fehlurteile und Führungsprobleme untersucht. Dabei sind auch die spezifischen Bündniskonstellationen von 1914 und davor wieder in den Blick gekommen, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass ein regionaler Konflikt auf dem Balkan nicht begrenzt werden konnte, sondern zum Großen Krieg eskalierte. Dennoch war dieser Krieg nicht zwangsläufig oder überdeterminiert, wie die Imperialismusstudien behauptet haben. Er hätte vielmehr, das soll auch diese Darstellung zeigen, bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft vermieden werden können. Eine Neukonturierung ist schon deswegen lohnend, weil sich daraus ein Lehrstück der Politik ergibt, in dem das Zusammenspiel von Angst und Unbedachtheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen analysiert werden kann, das auf einen Weg führte, auf dem schließlich keine Umkehr mehr möglich schien: Ende Juli 1914 nicht, als dies noch relativ einfach gewesen wäre, aber alle Seiten den damit verbundenen «Gesichtsverlust» scheuten, und auch nicht während des Krieges, als längst klar war, dass jeder weitere Schritt irreparable Verheerungen nicht nur beim Gegner, sondern auch in der eigenen Gesellschaft hinterlassen würde. Das Bild von den Lemmingen, die sich kollektiv in den Abgrund stürzen, ist oft bemüht worden, ohne dass damit erklärt werden konnte, warum sich eine ganze Generation von Politikern so verhalten hat.
Vor längerem schon hat sich die amerikanische Politikwissenschaft dieser Frage angenommen, insbesondere die sogenannte Realistische Schule der Internationalen Politik und deren Filiationen, die politisches Handeln als machtbewehrte Interessendurchsetzung begreifen, sowie eine spieltheoretisch angeleitete Interaktionsanalyse, die Entscheidungen im Hinblick auf ihre «Rationalität» analysiert. Dabei haben sie den Ersten Weltkrieg jedoch nicht in seinem Gesamtzusammenhang und über seine ganze Dauer untersucht, sondern sich auf einzelne Vorgänge beschränkt: Wie hätten bei vollständiger Information jeweils rationale Entscheidungen ausgesehen, und welche Entscheidungen haben die unzureichend informierten und voreingenommenen Akteure tatsächlich getroffen? Diese Methodik ist der Idee nach auch in die vorliegende Darstellung eingegangen, indem die Optionen skizziert werden, die den politischen und militärischen Verantwortlichen zur Verfügung standen. Das hat nichts mit retrospektiver Besserwisserei zu tun, sondern soll erklären helfen, warum die im Strudel der Ereignisse und obendrein unter Zeitdruck Stehenden so gehandelt haben, wie sie es taten. Warum etwa haben die Deutschen nach dem Scheitern ihrer Offensive gegen Frankreich nicht schon im September 1914 alles unternommen, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, und warum haben Franzosen, Briten und Italiener, nachdem ihre eigenen Angriffsoperationen ein ums andere Mal steckenblieben, daraus immer nur die Konsequenz gezogen, dass umgehend die nächste Offensive vorbereitet werden müsse?
Der politischen und militärischen Führung Deutschlands sind zweifellos eine
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