Der gruene Heinrich [Erste Fassung]
eigenen Person, sondern die Reibung an den Mitmenschen zu ihrer Befriedigung wählt. In der Tat sieht man oft, wie ein einziger Mensch, der nicht eitel ist oder doch das Gift unschädlich zu verbergen weiß, wenn er nur will, einen frischen Luftzug unter die Leute bringt, und wo mehrere zusammentreffen, die sich nur leidlich zu mäßigen vermögen, wird sogleich Ruhe, Ehre, Offenheit und Sicherheit herrschen und etwas Erkleckliches getan werden.« – »Ist die Eitelkeit, indem sie in der Zudringlichkeit, in der gewaltsamen Verfügung über die Meinung und Gemütsruhe anderer besteht, ein Riß und eine Abirrung vom eigenen Wesen, so ist hingegen die unschuldige Eitelkeit, welche in einer gutartigen Verzierung des eigenen Wesens und in der Freude an demselben besteht, eine wahrhafte Ergänzung desselben, sozusagen das goldene Hausmittelchen der Menschlichkeit und das beste Gegengift für jene bösartige weltliche Eitelkeit.
Aber die gute und schöne Eitelkeit, als die zierliche Vervollkommnung oder Ausrundung unseres Wesens, indem sie alle Keimchen zum Blühen bringt, die uns brauchbar und annehmlich machen für die äußere Welt, ist zugleich der beste und feinste Richter und Regulator ihrer selbst und treibt uns an, das Gute und Wahre, was wir auch sonst vorbringen würden, ohne häßliche Manier, ohne Aufgeblasenheit und Schnörkelei zu vertreten, und so veredelt sie sich von selbst zum guten Geschmack, welcher seinerseits wieder nichts anderes als die Gesundheit und das Vernünftige selbst ist.«
Indem Heinrich dergestalt vor sich hinpredigte, lenkte er endlich seine Gedanken auf sich selbst und fragte sich, zum ersten Male in seinem Leben, ob er selbst nicht eitel sei, und in welcher Weise, in der verwerflichen oder in der guten Art? Er setzte sich abermals höchst bedächtig auf einen Stein und sann darüber nach, traurig und verfroren; denn in guten jungen Tagen fragt man sich wohl einmal, ob man gut oder böse sei, ob aber eitel, anmaßend oder unerträglich, erst wenn man etwas mürbe geworden und ordentlich durchgeregnet ist. Da fiel sein Blick auf das triefende Päcklein, das er in seinen Händen hielt, und er fand sofort, daß der Inhalt desselben wohl das Produkt der Selbstgefälligkeit sein dürfte, welche ihn in so frühem Alter unbewußt getrieben hatte, ein Bild von sich selbst zu entwerfen und festzuhalten. Doch als er dieses selbe Bild näher und nicht unliebsam betrachtete und der Sonnenschein der entschwundenen Jugendzeit durch das dunkle feuchte Wachstüchelchen zu leuchten begann, glaubte er sich sagen zu dürfen, daß die Eitelkeit der eingewickelten Bücher zu der guten Art gehöre, welche ihren Inhaber zierlich verlockt, sich selbst zu ergänzen und darzustellen, und ihm hilft zu sein, was er seiner Natur nach sein kann. Wie er nun das verhüllte Buch in Gedanken durchblätterte, sah er jene Stelle, wo er in den frühesten Tagen der Kindheit seine kleinen Mitschüler ins Unglück hineingelogen und eine ganze Malefizgeschichte über sie aus dem Stegreif ersonnen hatte, und damit tauchte die weitere Frage in ihm auf, ob er eigentlich von Grund aus eine Neigung zum Wahren oder zu dessen Gegenteil habe; denn ohne die Liebe zur Wahrheit und Aufrichtigkeit ist die Eitelkeit in allen Fällen ein schädliches Laster. Da er aber seit nun bald zwanzig Jahren nicht die mindeste Lust zu solcher Teufelei mehr verspürt und sich auch gestehen konnte, aufrichtig um das Wahre bekümmert zu sein, so beruhigte er sich über diesen Punkt und suchte sich nur jene so ausgeprägte Kinderuntat auf andere Weise zu erklären.
Und da führte er sich dann den seltsamen Vorgang auf die angeborne Lust und Neigung zurück, im lebendigen Menschenverkehr zu wirken und zu hantieren und seinerseits dazu beizutragen, daß alle Dinge, an denen er beteiligt, einen ordentlichen Verlauf nähmen. Dem Kinde war der Unterschied zwischen Gut und Böse oder vielmehr zwischen wahrer und falscher Sachlage nicht bewußt und völlig gleichgültig; die Erwachsenen hatten jenen Handel unvernünftig eingeleitet, das Kind hatte nichts zu tun, als, da ihm die wirkliche Gerechtigkeit verborgen war, eine poetische Gerechtigkeit herzustellen und dazu erst einen ordentlichen faktischen Stoff zu schaffen. Auch erinnerte er sich noch heute, daß er damals ohne die mindesten Gewissensbisse und mit dem unbefangensten Interesse dem angerichteten Schaden zugesehen.
Gedachte er nun noch, wie er um die gleiche Zeit sich Bilder von Wachs gemacht und
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