Der gruene Heinrich [Erste Fassung]
Kampfes totgeschlagen und infolgedessen gefangen worden und vor ein Gericht über Leben und Tod gestellt sei, und er dachte sich eine feurige und siegreiche Verteidigungsrede aus, welche ihn nicht nur aus dem bösen Handel zöge, sondern auch der Sache der Menschlichkeit ein kräftiges Wort liehe und aus dem Angeklagten einen Ankläger machen würde. Dann von diesem gewaltsamen Gegenstande zu anderen Vorstellungen übergehend, sah er sich handelnd und redend, streitend und Überzeugend oder sich unbefangen überzeugen lassend, unter den Menschen verkehren und durch das bloße Hervorkehren eines guten Gewissens, einer wahren Natur und Offenheit, eines unverhohlenen und kräftigen Benehmens die Lügner überführen, die Unentschlossenen antreiben und die vorsätzlich Unklaren zum Sehen zwingen, jeden Handel bestehen, jede Verwirrung zerstreuen und durch das einfachste und unverfänglichste Dasein das Wahre an sich ziehen und Heiterkeit um sich verbreiten. Er sah sich das Verwerfliche unter allen Bedingungen verwerfen und ohne Prahlerei und Salbung, ohne Verzerrung des Gesichtes und Verrenkung des Lebens überall für das Sprüchlein einstehen Ehrlich währt am längsten und Was dem einen recht, ist dem andern billig; und er lachte ruhig und unbekümmert diejenigen aus, welche weiser zu sein glaubten als diese einfache Lehre und weitsehender als deren unabweichliche Folgen. Dann, indem er wieder des Flurschützen gedachte und den Grund von dessen bestialischem Wesen aufzufinden sich bemühte, stellte er sich die Gestalt desselben nochmals lebendig vor die Augen, und indem er die rollenden Augen, die hochroten Backen und Nasenpolster, den grauen, wohl im Stand gehaltenen Schnurrbart, den dicken Bauch und die blanken Knöpfe des Dienstrockes betrachtete, sah er wohl, daß das Fundament alles dieses anmaßlichen, behaglich brutalen Gebausches eine unbegrenzte Eitelkeit sei, die sich, da sie einer halben Bestie angehörte, nicht anders als in solcher Weise äußern konnte »Dieser Kerl, welcher vielleicht der beste Vater und Gatte war und ein ganz guter Geselle unter seinesgleichen, insofern man ihn nur nicht im Prahlen und Ausbreiten seiner Art behinderte, dieser Kerl gefiel sich ausnehmend wohl und hielt sich für einen Kerl, nach Maßgabe seiner Dummheit, als er die alte Frau am Ohr zerrte. Nicht daß er etwa in der Kirche oder im Beichtstuhl zuweilen nicht einsähe, daß er unchristlich lebe und handle; der Rausch der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit ist es, welcher ihn alle Augenblicke fortreißt und seinem Götzen frönen läßt.
Gleichermaßen sieht er das Laster an seinem nächsten Vorgesetzten, dieser an dem seinigen, und so fort stufenweise, indem einer es am andern gar wohl bemerkt, selbst aber nichts Eifrigeres zu tun hat, als der eigenen Unart voll Wut den Zügel schießen zu lassen, um nicht zu kurz zu kommen und sich herrlich darzustellen. Alle die tausend voneinander Abhängigen streichen ihre grauen Schnäuze und lassen die Augen rollen, nicht aus Bosheit, sondern aus kindischer Eitelkeit; sie sind eitel im Befehlen und eitel im Gehorchen, eitel im Stolz und eitel in der Demut; sie lügen aus Eitelkeit, und die Wahrheit wird aus Eitelkeit in ihrem Munde zur Lüge; denn sie sagen eine Wahrheit nicht um ihrer selbst willen, sondern weil es ihnen im Augenblicke gut anzustehen scheint. Stolz, Herrschsucht, Neid, Habsucht, Hartherzigkeit, Verleumdung, alle diese Laster lassen sich bändigen und zurückhalten oder in Schlummer singen; nur die Eitelkeit ist immer wach und verstrickt den Menschen unaufhörlich in tausend lügenhafte Dinge, Brutalitäten und kleinere oder größere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz anderes Wesen aus ihm machen, als er ursprünglich war und eigentlich sein will. Denn die Eitelkeit ist nichts anderes als die krankhafte Abirrung von sich selbst, der Mangel an genügendem Gefühl seines sichern Daseins und die Angst, gerade durch diese Verwirrung um das Dasein zu kommen. Hiegegen hilft kein Christentum; denn der bekehrte Sünder ist erst recht eitel auf seine Reue und auf die Gnade des Herrn und wird seinen neuen Tick darin finden, über die Eitelkeit der Welt zu jammern. Gegen alles das Übel, was von diesem Mehlstaub Eitelkeit stammt, hilft nur die einfache, rein sachliche Gegenwirkung die Eitelkeit immer und allüberall zu verletzen, sie bei der Nase zu nehmen und ihr die eigene Zwecklosigkeit deutlich zu machen, d.h. insofern als sie nicht die unschuldige Beschäftigung mit der
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