Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der grüne Strahl

Der grüne Strahl

Titel: Der grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Gesängen zu berauschen, wenn Aristobulos Ursiclos sie nicht rauh unterbrochen hätte, indem er sagte:
    »Meine Herren, haben Sie jemals einen einzigen dieser vermutheten Genien gesehen, von denen Sie mit solchem Enthusiasmus sprechen? Nein! Und kann man sie überhaupt sehen? Auch nicht, nicht wahr?
    – Darin liegt eben Ihr Irrthum, mein Herr, und ich beklage Sie, dieselben niemals wahrgenommen zu haben, entgegnete Miß Campbell, die ihrem Widersacher nicht um die Breite eines Geisterhaares nachgegeben hätte. Man sieht sie überall in den Hochlanden Schottlands, wenn sie durch die langen öden Thalgründe schweben, sich aus dem Grunde der Schluchten erheben, über die Oberfläche der Seen gleiten, in dem friedlichen Gewässer unserer Hebriden sich tummeln, und noch scherzen inmitten der Stürme, die der nordische Winter entfesselt. Und warum könnte beispielsweise jener Grüne Strahl, den ich mit aller Ausdauer verfolge, nicht vielleicht die Schärpe einer Walküre sein, deren flatterndes Ende sie durch das Wasser am Horizonte schleift?
    – O nein, rief Aristobulos Ursiclos, davon kann keine Rede sein. Ich will Ihnen besser sagen, welche Bewandtniß es mit Ihrem Grünen Strahle hat.
    – Sprechen Sie es nicht aus, mein Herr, bat Miß Campbell, ich mag es nicht wissen.
    – Und doch, widersprach ihr Aristobulos Ursiclos, den der kleine Streit in die Hitze gebracht hatte.
    – So verbiete ich es Ihnen…
    – Und ich werd’ es dennoch sagen, Miß Campbell. Der letzte Strahl, den die Sonne in dem Augenblicke aussendet, wo der obere Rand ihrer Scheibe den Horizont gerade berührt, erscheint, wenn er überhaupt noch grün ist, wahrscheinlich nur deshalb in dieser Farbe, weil er dieselbe erhält, wenn er die dünne Wasserschicht durchdringt….
    – Schweigen Sie, Herr Ursiclos!…
    – Im Fall dieses nicht ganz natürlicher Weise dem glühenden Roth der plötzlich versunkenen Sonnenscheibe folgt, dessen Eindruck unser Auge noch bewahrt hat, weil nach der Lehre der Optik Grün dessen Complementärfarbe ist.
    – Ach, mein Herr, Ihre physikalischen Anschauungen…
    – Meine Anschauungen, Miß Campbell, stimmen ganz mit den Thatsachen überein, antwortete Aristobulos Ursiclos, und ich behalte mir vor, über diesen Gegenstand eine Abhandlung zu veröffentlichen.
    – Wir wollen aufbrechen, liebe Onkels, rief Miß Campbell wirklich ärgerlich, Herr Ursiclos würde mir mit seinen Erklärungen zuletzt meinen Grünen Strahl gründlich verderben!«
    Da kam ihr Olivier Sinclair zu Hilfe.
    »Mein Herr, sagte er, ich glaube gern, daß Ihre Abhandlung über den Grünen Strahl ganz bemerkenswerth ausfallen wird, aber gestatten Sie mir ein anderes, vielleicht noch interessanteres Thema vorzuschlagen.
    – Und welches, mein Herr? fragte Aristobulos Ursiclos, sich in die Brust werfend.
    – Es ist Ihnen jedenfalls nicht unbekannt, daß einige Gelehrte höchst wissenschaftlich die brennende Frage behandelt haben: »Ueber den Einfluß der Schwänze der Fische auf die Wellenbildung im Weltmeere«…?
    – Mein Herr…
    – Ich kann Ihren tiefsinnigen Studien auch noch einen anderen würdigen Gegenstand bezeichnen: »Ueber den Einfluß der Blasinstrumente auf das Entstehen der Stürme.«
Sechzehntes Capitel.
Zwei Flintenschüsse.
    Am folgenden und während der ersten Tage des September sah man Aristobulos Ursiclos nicht wieder. Hatte er Jona mit dem Touristen-Dampfer verlassen, nachdem er sich überzeugt, daß er an der Seite der Miß Campbell nur seine Zeit verliere?
    Niemand hätte es sagen können. Jedenfalls that er wohl daran, sich nicht wieder zu zeigen. Er erweckte in dem jungen Mädchen jetzt nicht mehr das Gefühl der Gleichgiltigkeit, sondern mehr das des wirklichen Abscheus. Wie konnte er auch deren Strahl seiner poetischen Natur entkleiden, deren Träumereien zu materialisiren, die flatternde Walkürenschärpe in ein ganz gewöhnliches optisches Phänomen zu verwandeln wagen! Vielleicht hätte sie ihm Alles verziehen, nur das allein gewiß nicht.
    Die Brüder Melvill erhielten nicht einmal Erlaubniß, Nachforschungen anzustellen, was aus Aristobulos Ursiclos geworden war.
    Wozu auch, was hätten sie ihm sagen können, was konnten sie noch hoffen? Vermochten sie trotz alledem noch an die geplante Verbindung zwischen zwei so antipathischen Wesen zu denken, welche der Abgrund trennt, der zwischen gemeiner Prosa und hochfliegender Poesie gähnt, der Eine mit seiner Manie, Alles auf trockene wissenschaftliche Formeln

Weitere Kostenlose Bücher