Der grüne Strahl
einzutreffen. Die Sonne konnte erst um sechs Uhr neunundvierzig Minuten untergehen, und man hatte demnach Zeit, ihr ein großes Stück zu folgen.
»Ich glaube, dieses Mal haben wir ihn, rief Bruder Sam, sich die Hände reibend.
– Ich glaub’ es auch!« erwiderte Bruder Sib, dieselbe Bewegung vornehmend.
Gegen drei Uhr Nachmittags, gab es jedoch Lärm. Eine Wolkenflocke, der Versuch einer Cumulusbildung, erhob sich im Osten und glitt, getrieben vom Landwinde, dem Ocean zu.
Miß Campbell hatte sie zuerst bemerkt. Sie konnte einen Ausruf der Entmuthigung nicht unterdrücken.
»O, sie ist ja allein, diese Wolke, sagte einer der Onkels, sie wird sich in nicht ferner Zeit auflösen…
– Oder sie bewegt sich schneller als die Sonne, meinte Olivier Sinclair, und verschwindet vor ihr unter dem Horizont.
– Doch ist diese Wolke nicht der Vorbote einer Nebelbank? fragte Miß Campbell.
– Das wird sich zeigen.«
In vollem Laufe begab sich Olivier Sinclair nach den Ruinen des Klosters. Dort konnte sein Blick, über die Berge von Mull hinweg, weit nach Osten schweifen.
Jene Berge strebten in voller Klarheit empor; der Kamm glich einer mit Bleistift auf ganz weißem Grunde gezogenen Wellenlinie.
Am weiten freien Himmelsraume fand sich keine andere Dunstbildung, und der deutlich sichtbare Ben More trug trotz seiner Höhe von dreitausend Fuß über dem Meere keine Nebelkappe.
Nach Verlauf einer halben Stunde kehrte Olivier Sinclair mit den tröstlichsten Versicherungen wieder zurück. Die gesehene Wolke war nichts als ein verlassenes Kind im Raume; sie konnte in der ausgetrockneten Atmosphäre keine Nahrung finden und mußte unterwegs schon an Hunger zu Grunde gehen.
Inzwischen stieg die weiße Wolke weiter nach dem Zenith auf. Zum großen Mißvergnügen Aller folgte sie dem Wege der Sonne und näherte sich dieser unter dem Drucke der Brise. Im Dahingleiten änderte sie in Folge der wirbelnden Bewegung der Luft ihre Gestalt; erst dem Kopfe eines Hundes ähnlich, verwandelte sie sich später in einen Fischkopf, gleich dem eines riesigen Rochens; dann rollte sie sich zu einer im Mittelpunkt dunklen, an den Rändern glänzenden Kugel zusammen und berührte in diesem Augenblick die Sonnenscheibe.
Ein Schrei entfuhr Miß Campbell, deren beide Arme sich gen Himmel emporstreckten.
Das hinter diesem Nebelschirm verborgen strahlende Gestirn sandte nicht mehr einen einzigen seiner Lichtblitze nach der Insel Jona, und letztere, welche jetzt außerhalb der Zone der directen Irradiation lag, hüllte sich in düstere Schatten.
Bald aber wechselte der ungeheure Schatten seine Stelle, und die Sonne erschien wieder in vollem Glanze. Die Wolke senkte sich zum Horizont herab – sie sollte ihn nicht einmal erreichen, denn eine halbe Stunde später verschwand sie gänzlich, als wenn am Himmel eine Oeffnung entstanden wäre.
»Endlich ist sie zerstreut, rief das junge Mädchen, nun gebe Gott, daß ihr keine andere folgt.
– Nein, seien Sie darüber ruhig, Miß Campbell, sagte Olivier Sinclair. Wenn diese Wolke so schnell auf diese Weise verschwand, ist es ein Zeichen, daß sie in der Atmosphäre keine anderen Dünste antraf, weil der ganze Himmelsraum nach Westen zu von vollkommener Reinheit ist.«
Um sechs Uhr Abends nahmen die Beobachter auf einem nach allen Seiten offenen Terrain ihren Posten ein.
Dieser befand sich am Nordende der Insel, auf einem den Hügel der Abtei überragenden Bergkamme. Von diesem Gipfel aus konnte der Blick frei ringsum schweifen; im Osten über die ganze höher liegende Landschaft der Insel Mull; im Norden erhob sich das Eiland von Staffa gleich der riesenhaften Schale einer Schildkröte, die in den Gewässern der Hebriden gestrandet wäre; darüber hinaus lösten sich Elva und Gometra von dem weit hinausschießenden Ufer der Insel ab; gegen Westen, Süd-und Nordwesten breitete sich nur das grenzenlose Meer vor ihnen aus.
Die Sonne sank in schräger Linie schnell tiefer. Der Rand des Horizonts erschien gleich einem schwarzen, mit chinesischer Tusche gezogenen Striche. Nach rückwärts dagegen glühten alle Fenster der Häuser von Jona wie im Wiederscheine einer Feuersbrunst, deren Flammen von schmelzendem Golde gewesen wären.
Miß Campbell, Olivier Sinclair, die Brüder Melvill, Frau Beß und Patridge verhielten sich, ergriffen von diesem erhabenen Schauspiel, ganz still. Sie betrachteten, halb die Augenlider schließend, die Scheibe, welche allmählich ihre Gestalt veränderte, sich parallel
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