Der Duft der grünen Papaya
»Ich liebe das Land.
Ich habe es erwählt als meine Heimat zu Lebzeiten
und als Grabstätte nach meinem Tod.
Und ich liebe die Menschen,
und ich habe sie erwählt als mein Volk,
mit dem ich leben und sterben will.«
Robert Louis Stevenson, 1894, über Samoa
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Samoa, November 2005
Ili Valaisi fragte sich manchmal, was die Leute an Papayas fanden. Papayas waren launisch. Sie wuchsen, wie und wann sie wollten. Der Erntezeitpunkt lag normalerweise zwischen Juli und Oktober, aber gab es ein bisschen mehr oder weniger Regen, ein bisschen mehr oder weniger Wind, ein bisschen mehr oder weniger Celsiusgrade hinter dem Komma, ließen die Papayas sich Zeit oder reiften im Gegenteil besonders schnell heran. Ili hatte einmal eine Papaya im Mai vom Stamm geholt, ohne zu wissen, ob die Frucht nun ein Nachzügler der letzten Ernte oder ein Vorbote der kommenden war. Papayas waren angeberisch. Größer als die meisten anderen Tropenfrüchte, schienen sie hinter ihren weichen grüngelben Schalen eine saftige Verheißung zu verbergen.
Ilis alte und geübte Hand zerteilte die Frucht mit einem konsequenten Messerschnitt, so dass die Papayahälften nach beiden Seiten auseinander fielen. Die Hälfte des Inneren füllten Hunderte schwarzer Kerne; ein Zeichen, wie stark der Drang der Papaya nach Fortpflanzung war.
Schabte man die Kerne aus, was einige Mühe machte, blieb nur allzu wenig des hellroten Fruchtfleisches übrig, und da die Schale ungenießbar war und sich zudem nicht abschälen ließ, musste sie mit einem Messer abgetrennt werden, was weitere Verluste an Fruchtfleisch zur Folge hatte. Übrig blieb ein kläglicher Rest, weniger saftig als eine Melone und weniger süß als eine Mango.
Mehr als einmal hatte sie sich die Frage gestellt, warum sie ausgerechnet eine Papayaplantage betrieb. Alle anderen Plantagenbesitzer bauten Kokosnüsse an, Ananas, Bananen, Mangos oder Taro, die Südseekartoffel. In letzter Zeit verlegten sich immer mehr Landbesitzer auf den Anbau von Kaffee, angelockt von großartigen Versprechungen der amerikanischen und europäischen Kaffeekonzerne. So weit Ili wusste, war sie die einzige Plantagenbesitzerin Samoas, die ausschließlich Papayas anbaute. Vielleicht lag darin schon die Antwort. Sie war seit jeher gern aus der Reihe getanzt. In ihrer Kindheit hatte man sie spüren lassen, dass sie anders war als die übrigen Kinder, doch statt sich davon kränken zu lassen, betrachtete sie dieses Anderssein als Vorteil. Sie erlaubte sich, Fragen zu stellen, quer zu denken und offen ihre Meinung zu äußern, seltene Eigenschaften im kleinen und konservativen Königreich Samoa. Außerdem war sie mit Papayas aufgewachsen. Der erste Duft, an den sie sich erinnerte, war der von Papayas, und das erste Bild, wie ihre Mutter sie mit einer riesigen Papaya in der Hand anlächelte. Irgendwie hätte sie die launischen, angeberischen Früchte vermisst.
Trotzdem betrachtete Ili es als eine Art Rache an der widerspenstigen Frucht, dass sie jene, die sie nicht für den Export nach Australien, Neuseeland und Europa verkaufte, sondern zum Eigenbedarf zurückbehielt, optimal nutzte. Die Kerne trocknete sie in der Sonne; sie gaben einen würzigen Pfefferersatz ab. Und die Schalen legte sie für die
Vögel zurecht, die mit ihren Schnäbeln die Fruchtfleischfetzen abpickten. Die ersten kamen bereits herangehüpft, vier Loris und ein Singstar. Ili begrüßte sie mit einem breiten Lächeln. Es würden noch mehr werden.
Schon als Kind liebte sie es, Vögel zu füttern, und hatte nie mehr damit aufgehört. Bereits in der sechzigsten oder siebzigsten Generation holten ihre fliegenden Freunde sich jeden Morgen und jeden Abend einige Leckerbissen bei ihr ab. Tausende Loris und Papageien hatte sie kommen und verschwinden sehen; sie wurden geboren, bekamen von ihren Eltern die Futterplätze gezeigt, fassten Vertrauen zu Ili, wurden selbst Eltern und führten ihrerseits wieder die Jungen zu Ilis Futterplatz hinter dem Haus, im Schatten der Papayas. So ging es viele Jahre, bis sie alt wurden und eines Tages ausblieben. Aber ihre Kinder und Kindeskinder waren bis dahin längst Stammgäste geworden.
Die Vögel waren ein Symbol für das, was Ili unter Glück verstand. Für sie hatte der Lauf der Natur etwas wunderbar Beruhigendes, ja auch Tröstliches, und sie konnte sich nicht vorstellen, ohne die immer gleiche Abfolge von Werden, Leben und Vergehen zu sein, ohne die Erinnerung an Vergangenes und ohne die Freude am Augenblick. Sie
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