Der Henker von Paris
aber nicht aus Anteilnahme, sondern weil er einen Brief für Jouenne hatte. Jouenne steckte ihn unter sein Wams, ohne ihn zu lesen. Er wollte Wein trinken. Am Morgen, am Mittag, am Abend und die ganze Nacht über. Meister Jouenne holte seine besten Weine aus dem Keller, und er und Jean-Baptiste wurden tagelang nicht mehr richtig nüchtern. Charles sass auf dem Sofa und blätterte in den kostbaren Pflanzenbüchern seines Grossvaters. Manchmalschaute er kurz auf. Er sah, dass die beiden Männer immer noch tranken, und las weiter.
Eines Morgens torkelte Meister Jouenne über den Hof und holte zwei Pferde aus der Scheune. Er spannte sie vor den Fuhrwagen und trat dann erneut in die Küche. Jean-Baptiste war über dem Tisch eingeschlafen. Als sich Jouenne setzte und den Weinkrug umkippte, schreckte er hoch. Sein Kopf brummte. Er wusste, dass irgendetwas geschehen war. Dann kam ihm in den Sinn, dass Joséphine gestorben war.
Jouenne nahm den Brief unter seinem Wams hervor und schob ihn seinem Schwiegersohn zu. »Ich hatte vor einiger Zeit dem Pariser Gerichtshof geschrieben und mich für eine Stelle in Paris beworben für den Fall, dass eine frei wird. Jetzt ist der Henker von Paris gestorben.«
Jean-Baptiste las das Schreiben sorgfältig durch. Er war sprachlos.
»Es sollte eine Überraschung sein«, brummte Jouenne, »ich dachte, es macht dich glücklich, wenn wir alle zusammen nach Paris ziehen. Ich hab’s für euch getan.«
»Die Königliche Kommission des Pariser Gerichtshofes hat dich zum neuen Henker von Paris berufen?«
»Ja, und mit mir hat sie auch dich berufen. Ergreife die Hand, die dir das Schicksal reicht. Zögere nicht.«
Für Jean-Baptiste kam das alles völlig unerwartet.
»Am 23. September musst du in Paris sein. Warte nicht! Im September wird es nass und kalt, und die Strassen weichen auf.«
Jean-Baptiste schenkte Wein nach und fragte: »Und du?«
»Ich erlebe den Herbst meines Lebens. Ich spüre, dass der Winter naht. Aber mach dir nichts draus. Und freu dich.Du wirst zehntausend Livre erhalten, das ist das Dreifache meines Verdienstes.«
Jean-Baptiste schwieg. Es hatte ihm die Stimme verschlagen.
»Denk an deinen Sohn. Die Mieten sind hoch in Paris, und du wirst eine Magd brauchen.« Der kleine Charles setzte sich auf Jouennes Knie und schaute ihn besorgt an. Jouenne setzte ihn wieder ab. »Jetzt, da du entschieden hast zu gehen, solltest du rasch gehen«, sagte er, ohne Jean-Baptiste anzusehen. »Der Fuhrwagen steht im Hof bereit. Ich habe die Pferde angespannt. Ich werde sie nicht mehr brauchen. Und vergiss die Bücher nicht, wenn du gehst. Sie sind für Charles. Er ist ein gescheiter Kopf. Schick ihn auf eine Schule, wenn die Zeit gekommen ist. Jeder Fluch findet eines Tages sein Ende. Ich denke nicht, dass er in deine Fussstapfen treten will. Gewähre ihm, was dir verwehrt blieb.«
Jouenne nahm die Weinflasche und verliess die Küche. Dann steckte er noch mal den Kopf zur Tür herein. »Deine Goldmünzen liegen auf Joséphines Nachttisch. Die Satteltasche ist in der Scheune. Jetzt kannst du mir ja sagen, woher du dieses Gold hast. Gestohlen?«
»Nein, ich habe es einem toten Offizier auf dem Schlachtfeld Terre Rouge in der Neuen Welt abgenommen.«
»Leichenfledderer«, sagte Jouenne abschätzig.
»Das Totenhemd hat keine Taschen«, sagte Jean-Baptiste, »ich werde das Gold für Charles’ Schulausbildung brauchen.«
Jouenne wandte sich ab. Er überquerte den Hof und verschwand hinter der Scheune. Jean-Baptiste blieb mit Charles in der Küche. Er wärmte die Kartoffeln vom Vortagund briet sie mit frischem Knoblauch, Zwiebeln, Basilikum und Käse. Meister Jouenne kam nicht zurück. Da beschloss Jean-Baptiste, ihn suchen zu gehen. Sie würden ein letztes Mal zusammen essen.
Er ging über den Hof. Jouenne hatte bereits eine Pferdedecke auf der Ladefläche des Fuhrwagens ausgebreitet. Gut verschnürt lagen dort unter anderem seine pharmazeutischen Nachschlagewerke. Es roch nach Verbranntem. Zuerst dachte Jean-Baptiste an die Kartoffeln, aber dann erinnerte er sich, dass er die Kasserolle vom Feuer genommen hatte. Hinter der Scheune stiegen Rauchschwaden auf. Charles rannte aus dem Wohnhaus und schrie, dass es irgendwo brenne. Zusammen liefen sie hinter die Scheune. Der Rauch kam aus der Kapelle. Über dem Eingang war ein Querbalken mit einer Inschrift. An diesem Balken baumelte Meister Jouenne.
»Es ist der Fluch«, murmelte Jean-Baptiste und schloss Charles in die Arme. »Ich
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