Der Henker von Paris
zu Charles, »da tust du deine Pflicht, und die Leute verachten dich dafür. Wir werden in Schimpf und Schande leben.«
Sein Sohn schaute zu ihm hoch und ergriff seinen Arm. »Wenn ich einmal Arzt bin, wirst du nicht mehr arbeiten müssen, Vater. Ich werde eine Mixtur erfinden, die Mutter geheilt hätte. Sie wird dann stolz sein auf mich.«
»Pläne sind gut, Charles. Sie geben ein Ziel vor, eine Richtung, doch wenn die Menschen Pläne machen, lachtGott. Der ganze Himmel lacht. Denn dort oben verspottet man uns.«
Charles nickte, obwohl er nicht richtig verstand, welche Schwermut seinen Vater befallen hatte. Er legte den Arm seines Vaters um seinen Hals und drückte die Hand auf seine Brust. »Versprich mir, dass du mich nie verlässt.«
»Ich verspreche es dir, Charles, Gott ist mein Zeuge.«
Am Morgen des übernächsten Tages fuhren sie durch eins der zahlreichen Pariser Stadttore und warteten im Steuerhof auf die Zollbeamten. Jean-Baptiste zeigte den Passierschein des Pariser Gerichtshofes, und sie konnten ungehindert weiterfahren. Vereinzelte Bauern nutzten die sehr frühe Morgenstunde, um ihr Vieh auf die Märkte zu treiben. Nach Anbruch des Tages würde dies ein Ding der Unmöglichkeit sein. Jean-Baptiste liess sich den Weg weisen. Mit gemischten Gefühlen stellte er fest, dass man ihn immer tiefer in die verruchtesten Quartiere lotste. »Du suchst das Haus des verstorbenen Henkers?«, fragte einer. »Wir nennen es das Hotel des Henkers.« Es lag in der Rue Baltard im Schatten der gegenüberliegenden Häuser, die mehr Stockwerke hatten. Es war ein düsteres Haus, das von einem achteckigen Glockenturm überragt wurde. Das Gebäude, in dem man nachts angeblich die Seelen der Gehenkten und Geköpften wimmern hörte, lag an einem Marktplatz, der Tag und Nacht nach warmem Blut und Fischabfällen stank. Streunende Hunde liefen durch diese Brühe, die ihre Pfoten blutrot färbte. Hier hat es wenigstens Menschen, dachte Jean-Baptiste. Auch wenn diese ihn meiden würden, er würde trotzdem nicht ganz allein sein. Denn da war immerhin derLärm tagsüber, der einem suggerierte, dass man nicht allein war. Seit Joséphines Tod hasste er die Einsamkeit.
Eine junge Frau Mitte zwanzig öffnete ihnen die Tür. »Ich bin Jeanne, die Tochter des Drechslers aus der Rue Beauregard«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Doch das Gesicht des kleinen Charles blieb regungslos. Als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, wich er zurück, als würde er von einer glühenden Reisszange bedroht. Jeanne insistierte nicht. Sie war von mittelgrosser Statur und wirkte sehr robust. Man sah ihren runden Gesichtszügen an, dass sie viel Zeit in der Küche verbrachte. Das lange braune Haar hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr Gesicht umrahmten und es noch etwas fülliger aussehen liessen. Sie führte Jean-Baptiste und Charles durch das kleine und enge Anwesen. Die Holzdecke des Wohnzimmers war der Boden des darüberliegenden Schafotts, wo an Markttagen Diebe und Verbrecher am Schandpfahl ausharrten. Hinter dem Haus war ein Hof. Daran angrenzend ein Pferdestall, eine Pharmacie sowie ein Schuppen, den noch nie jemand betreten habe, wie Jeanne erklärte, mit Ausnahme des verstorbenen Henkers. Jetzt standen sie alle drei im Hof. Ein Hund kam wedelnd auf sie zu. Charles ergriff wieder den Arm seines Vaters und legte ihn quer über seine Brust. Der Hund schnupperte an seiner Hose.
»Kann ich den Schuppen sehen?«, fragte Jean-Baptiste.
»Fragen Sie mich nicht, was der alte Henker dort gelagert hat. Ich weiss es nicht. Aber manchmal hat es ganz schön gestunken.« Mit einem diskreten Blick auf Charles gab Jeanne ihm zu verstehen, dass der Schuppen eher nicht für Kinderaugen geeignet war. Sie legte ihre rechte Handüber Charles’ Augen und wich mit ihm zurück. »Wir warten draussen.«
Jean-Baptiste trat ein. Ein scheusslicher Gestank schlug ihm entgegen. Der süsslich-penetrante Duft der Verwesung. Unter dem offenen Fenster war eine Liege. Darauf ein geköpfter Leichnam. Der Kopf lag zwischen den Knien. Offenbar hatte sein Vorgänger der gleichen Leidenschaft wie Meister Jouenne gefrönt, dachte Jean-Baptiste, und die Leichen der Hingerichteten seziert, bevor er sie am nächsten Tag zum Friedhof fuhr. Er näherte sich der Leiche. Es war stets seltsam, einen Körper ohne Kopf zu sehen. Es war gegen die Natur. Doch nichts konnte ihn mehr erschrecken. Er wusste, dass das Schicksal kein Erbarmen kannte. Er hatte gesehen, wie Menschen
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