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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
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hoffe, dass du eines Tages nur Mädchen haben wirst. Bloss keinen Sohn. Der Spuk muss ein Ende haben.«
    »Und ich? Muss ich denn auch Henker werden?«
    »Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es wissen.«

2
    Jean-Baptiste Sanson fuhr mit Charles nach Paris. Die wertvollsten Arbeitsutensilien von Meister Jouenne hatte er auf den Fuhrwagen gepackt: nebst den Werkzeugen die ganze Pharmacie, die teuren Bücher und einen Haufen Kleider, aus denen man das Blut nicht mehr herauswaschen konnte. Eines Tages würde man die Flecken nicht mehr sehen, weil alles rot war, sinnierte Jean-Baptiste, während er die Pferde antrieb. Er sah das Blut längst nicht mehr, das aus den Verurteilten spritzte, wenn man ihnen mit dem Schwert den Kopf vom Rumpf trennte. In Jouennes Keller hatte er kleine Fässer mit Apfelschnaps gefunden. Die hatte er auch auf den Fuhrwagen geladen. Er würde den Schnaps brauchen. Seit er mit Charles das verwunschene Gehöft verlassen hatte, plagten ihn düstere Gedanken. Gab es diesen Fluch, oder gab es ihn nicht? Wenn er an Gott glaube, hatte Jouenne gesagt, dann müsse er auch an Flüche glauben. Und wenn der Fluch ein Werkzeug Gottes war, dann grenzte es an Lästerung, dagegen anzukämpfen. Er zweifelte eigentlich daran, dass alles, was sich auf der Erde abspielte, einem ausgeklügelten göttlichen Plan entsprang. Aber er wagte nicht, den Gedanken zu vertiefen. Zu stark war die Furcht, dafür bestraft zu werden. So fuhren sie schweigend durch die Wälder. Der kleine Charles sagte manchmal mit leiser Stimme: »Das ist ein Kastanienbaum« oder »Das ist eine Akazie.« Dann schaute er zu seinem Vater hinauf und wartete, bis dieser nickte. Sein Grossvater hatte ihn alles gelehrt. Charles kannte die Buchen, die weissen und die roten,die Ahornbäume, die Eberesche, den Spitzahorn und den Bergahorn, die Eibe und die Eiche. Sie alle begannen ihre Blätter abzuwerfen und den Waldboden mit einer gelbroten Laubschicht zu bedecken, als gelte es, den Weg gegen den Frost des nahenden Winters zu schützen. Unterwegs hielten sie kurz an, weil Charles Wasser lassen musste. Er trödelte verträumt herum und bückte sich nach etwas, das er im Laub gefunden hatte. »Ein Wurm«, sagte Charles und zeigte ihn seinem Vater, »ich habe noch nie einen so grossen Wurm gesehen.«
    Jean-Baptiste lächelte matt und gab Charles ein Zeichen, wieder auf den Wagen zu steigen. »Lass den Wurm seine Arbeit verrichten. Zusammen mit den Milben und Asseln verarbeitet er das Laub zu Humus. So hat alles seinen Sinn.«
    Charles nickte und bestieg den Wagen. Als sie aus dem Wald hinausfuhren, fragte er plötzlich, wieso sein Vater nun doch Henker in Paris werden wolle. Er habe doch diesen Beruf nie gewollt. Jean-Baptiste schaute seinen Sohn nachdenklich an. Schliesslich blickte er wieder über die Köpfe der trabenden Pferde nach vorn. »Ich will nicht, Charles, aber ich muss. Ich habe keine andere Wahl.«
    »Du kannst doch etwas anderes tun, niemand sieht dich, niemand wird es wissen.«
    »Da irrst du dich aber gewaltig«, sagte Jean-Baptiste bitter. »Hat ein Fluss denn eine Wahl? Er fliesst in seinem Bett, manchmal tritt er über die Ufer, aber er kann den Lauf nicht ändern und endet im grossen Ozean.«
    Sie fuhren entlang den Apfelplantagen Richtung Paris. Jean-Baptiste erzählte ab und zu von seiner Jugend, von derNeuen Welt, doch Charles schwieg. Jean-Baptiste war sich aber sicher, dass sein kleiner Sohn aufmerksam zuhörte und dass seine Stimme ihn beruhigte.
    »Ich werde Henker«, sagte Jean-Baptiste plötzlich, »damit du nie Henker werden musst. Ich liebe dich, Charles. Du bist wichtiger als mein eigenes Leben. Ich werde alles tun, damit du ein besseres Leben hast. Wenn es in einigen Jahren immer noch dein Wunsch ist, sollst du Arzt werden.«
    In der Ferne sahen sie zwei Männer am Strassenrand stehen. Instinktiv legte Jean-Baptiste eine Hand auf den Knauf seines Degens. Als der Wagen die beiden Fremden erreicht hatte, baten sie, in den Wagen steigen zu dürfen. Es waren Tagelöhner, die in Paris Arbeit suchen wollten. Sie waren schäbig gekleidet, und der Hunger hatte ihre Körper ausgemergelt. Doch kaum hatten sie den Wagen bestiegen und die Henkersutensilien gesehen, sprangen sie entsetzt wieder herunter. »Das ist ein Henker!«, schrie der eine. »Warum gibt er sich nicht zu erkennen?«, brüllte der andere voller Zorn. Jean-Baptiste fuhr unbeirrt weiter, während einige Steine über seinen Kopf hinwegflogen. »Siehst du«, sagte er

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