Der Idiot
meist; er ist sehr schweigsam. Beim Fortgehen deutete ich ihm an, daß trotz aller zwischen uns bestehenden Verschiedenheit und trotz aller Gegensätzlichkeit doch les extrêmités se touchent (ich erklärte es ihm auf russisch), so daß vielleicht auch er selbst von meiner ›letzten Überzeugung‹ gar nicht so weit entfernt sei, wie es scheine. Hierauf antwortete er mir mit einer sehr mürrischen, sauren Grimasse, stand auf, suchte mir meine Mütze, tat so, als ob ich von selbst hätte weggehen wollen, und führte mich unter dem Anschein, mir höflich das Geleit zu geben, ganz einfach aus seinem finsteren Haus hinaus. Sein Haus überraschte mich; es hat Ähnlichkeit mit einem Kirchhof; ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt, ist an sich schon zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung bedürfte.
Dieser Besuch bei Rogoschin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich sehr schwach und legte mich zu Bett; zeitweilig verspürte ich eine starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider zufielen, stand mir sofort Iwan Fomitsch vor Augen, der in den Besitz mehrerer Millionen Rubel gelangt war. Er wußte gar nicht, wo er damit bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zweck das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes. Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher bei Rogoschin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes; aber es hatte in mir eine eigentümliche Unruhe hervorgerufen.
Auf diesem Bild ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf Rogoschins Bild aber kann von Schönheit nicht die Rede sein; dies ist in jeder Hinsicht der Leichnam eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung, während er das Kreuz auf seinen Schultern trug und unter ihm zusammensank, grenzenlose Qualen erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge von seiten der Wache und des Volkes, und dann schließlich die sechsstündige Kreuzesqual (solange dauerte sie nach meiner Berechnung mindestens). Das ist allerdings wirklich das Gesicht eines
soeben
vom Kreuz abgenommenen Menschen; das heißt, es bewahrt noch sehr viel Lebenswärme, es ist an ihm noch nichts erstarrt, so daß auf dem Gesicht des Toten noch immer ein Ausdruck des Schmerzes liegt, wie wenn er ihn noch jetzt empfände (dies hat der Künstler sehr gut erfaßt); aber dafür ist das Gesicht auch ohne jede Schonung dargestellt, durchaus naturgetreu; so mußte in Wahrheit der Leichnam eines Menschen, wer dieser auch sein mochte, nach solchen Qualen aussehen. Ich weiß, daß die christliche Kirche schon in den ersten Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus nicht figürlich, sondern tatsächlich gelitten habe, und daß folglich sein Körper am Kreuz dem Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem Bild ist dieses Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen, verschwollen, von schrecklichen, blutunterlaufenen, blauen Flecken bedeckt; die Augen stehen weit offen; die Pupillen schielen; die großen, offen sichtbaren Augäpfel haben
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