Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
Vom Netzwerk:
einen toten, gläsernen Glanz. Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam eines gepeinigten Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante Frage auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden sollten, und die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuz gestanden hatten, und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn Gottes hielten, wenn diese alle einen genau solchen Leichnam sahen (und er mußte unbedingt genau so aussehen): wie konnten sie dann trotzdem glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen werde? Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke: wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief: ›Talitha kumi!‹, und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹, und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger, wiewohl etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben, und von denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht auseinandergehen, obgleich ein jeder von ihnen eine gewaltige Idee in sich trug, die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst am Tag vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes unwillkürlich auf.
    Alles dies schwebte auch mir ganze anderthalb Stunden lang, nachdem Kolja weggegangen war, bruchstückweise vor, vielleicht tatsächlich im Fieberwahn, manchmal aber auch in klarer Gestalt. Kann einem denn das in klarer Gestalt vorschweben, was überhaupt keine Gestalt hat? Aber es schien mir zeitweilig, als sähe ich diese grenzenlose Macht, dieses taube, dunkle, stumme Wesen in einer seltsamen, unglaublichen Form vor mir. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als leite mich jemand, der eine Kerze hielt, an der Hand und zeige mir eine riesige, widerliche Tarantel und versichere mir, das sei eben jenes dunkle, taube, allmächtige Wesen, und lache über meine Empörung. In meinem Zimmer wird vor dem Heiligenbild immer für die Nacht das Lämpchen angezündet, das zwar nur ein schwaches, trübes Licht gibt, indes kann man doch alles erkennen und dicht bei ihm sogar lesen. Ich glaube, es war schon Mitternacht vorüber; ich war völlig wach und lag mit offenen Augen da; plötzlich wurde die Tür meines Zimmers geöffnet, und Rogoschin trat herein.
    Er trat herein, machte die Tür wieder zu, sah mich schweigend an und ging leise in die Ecke zu dem Stuhl, der dicht unter dem Heiligenlämpchen steht. Ich war sehr erstaunt und blickte erwartungsvoll hin; Rogoschin stützte sich mit dem Ellbogen auf ein Tischchen und begann, mich schweigend anzuschauen. So vergingen zwei bis drei Minuten, und ich erinnere mich, daß sein Stillschweigen mich sehr verletzte und ärgerte. Warum wollte er denn nicht reden? Daß er so spät kam, schien mir allerdings sonderbar; aber ich erinnere mich, daß ich gerade darüber eigentlich nicht erstaunt war. Im Gegenteil: ich hatte ihm zwar am Morgen meinen Gedanken nicht deutlich ausgesprochen; aber ich wußte, daß er ihn verstanden hatte; und dieser Gedanke war von der Art, daß Rogoschin aus Anlaß desselben allerdings herkommen konnte, um nochmals darüber zu reden, selbst zu so später Stunde. Ich meinte auch, daß er deswegen gekommen sei. Wir hatten uns am Vormittag in einigermaßen

Weitere Kostenlose Bücher